Ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer.                        29.06.2020, 16:15 UhrMit welchen Schikanen Seenotretter behindert werden

 

Behörden erschweren mit absurden Fallstricken die Seenotrettung im Mittelmeer. Das Bundesverkehrsministerium ist vorn dabei. Es folgt einer Logik. 

Das Schiff „Alan Kurdi“ der deutschen NGO Sea-Eye.
Das Schiff „Alan Kurdi“ der deutschen NGO Sea-Eye.FOTO: CEDRIC FETTOUCHE/SEA-EYE.ORG/AFP

 

Nun ist die „Alan Kurdi“ wieder frei, sie hat Donnerstagabend den Hafen von Palermo verlassen, nach sieben Wochen Behördenirrsinn, Einschüchterungsversuchen und offenen Drohungen. Es waren auch sieben Wochen, in denen Gorden Isler immer wieder neue Meldungen über Ertrunkene auf seinem Smartphone las und sich dachte: Diese Menschen hätten wir vielleicht retten können.

„Was uns passiert ist, war kein Zufall“, sagt Isler am Telefon. „Diese Schikanen haben System.“

Mehrere Hundert Menschen sind 2020 beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, bereits ertrunken. Im Juni gab es bislang offiziell 96 Tote. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen, denn viele Seenotretter, die sonst in der Region in internationalen Gewässern kreuzen und nach verunglückten Booten Ausschau halten, sind derzeit zwar einsatzbereit, werden aber unter Strafandrohung am Auslaufen gehindert

Gorden Isler, Sprecher der deutschen Rettungsorganisation „Sea-Eye“, die das Schiff „Alan Kurdi“ betreibt, sagt: „Die Coronapandemie hat leider dazu geführt, dass das Sterben im Mittelmeer weitgehend aus dem Blick der Öffentlichkeit verschwunden ist.“ Und: „Unsere Gegner haben Corona gezielt genutzt, Seenotrettung weiter zu kriminalisieren.“

Die „Alan Kurdi“ rettete zuletzt im April 150 Migranten vor dem Ertrinken. Kurz darauf wurde das Schiff im Hafen von Palermo von den italienischen Behörden festgesetzt. Begründung: Eine Inspektion habe ergeben, dass die „Alan Kurdi“ gegen Auflagen verstoße. Zum Beispiel verfüge das Schiff lediglich über drei Toiletten. Die deutsche Schwesterbehörde – das Schiff fährt unter deutscher Flagge – widersprach deutlich, doch Italien blieb stur. „Man muss sich das einmal vorstellen“, sagt Gorden Isler, „wir sollen ernsthaft Flüchtlinge ertrinken lassen, weil wir ihnen an Bord angeblich nicht genug Sanitäranlagen bieten könnten?“

Mitarbeiter anderer Hilfsorganisationen berichten von ähnlichen Versuchen, sie durch Bürokratie am Retten zu hindern. Ein italienischer Staatsanwalt etwa wollte ein Schiff von „SOS Méditerranée“ und „Ärzte ohne Grenzen“ beschlagnahmen lassen, weil darauf angeblich der Müll nicht korrekt getrennt wurde. Die Kleidung der aus dem Meer Geretteten müsse als „toxischer Müll“ deklariert werden. Und immer wieder wird Schiffen nach einem Rettungseinsatz das Einlaufen in Häfen verwehrt.

An diesem Montag ist es ein Jahr her, dass sich die deutsche Kapitänin Carola Rackete einem derartigen Verbot widersetzte und ihr Schiff mit 40 Geretteten an Bord nach wochenlanger Odyssee in den Hafen von Lampedusa brachte. Rackete wurde daraufhin vorübergehend festgenommen, erst auf öffentlichen Druck hin freigelassen. Der Oberste Gerichtshof Italiens entschied später, die Deutsche habe korrekt und dem Seerecht entsprechend gehandelt.

„Corona als Vorwand, Seerecht zu brechen“

Zwar hat Italien inzwischen eine neue Regierung, der damalige rechte Innenminister Matteo Salvivi ist fort. Trotzdem habe sich „innerhalb der EU und an der EU-Außengrenze nichts grundlegend geändert“, schreibt Carola Rackete in einer Erklärung zum Jahrestag: „Wenn überhaupt, dann hat sich die Lage im letzten Jahr weiter verschlechtert. Malta an erster Stelle, aber auch andere europäische Staaten einschließlich Deutschland, nutzen die Corona-Pandemie als Vorwand, um Menschenrechte auszusetzen und das Seerecht zu brechen.“ Die vielen Toten jeden Monat seien keine Opfer eines unerwarteten Unfalls oder einer Naturkatastrophe. „Sie ertrinken, weil die Europäische Union es so will. Um diejenigen abzuschrecken, die ebenfalls die gefährliche Route über das Mittelmeer wagen könnten.“

Carola Rackete im Juni nach der Ankunft in Lampedusa, wo sie von der Polizei zum Verhör abgeführt wurde.
Carola Rackete im Juni nach der Ankunft in Lampedusa, wo sie von der Polizei zum Verhör abgeführt wurde.FOTO: REUTERS/GUGLIELMO MANGIAPANE

Der Druck auf die privaten Seenotretter folgt einer inneren Logik. Denn Ertrinkende, die von ihnen aus Seenot gerettet werden, bringen die Hilfsorganisationen anschließend in einen europäischen Hafen – Kapitäne sind nach internationalem Seerecht verpflichtet, Gerettete in einem sicheren Hafen abzusetzen. Das vom Bürgerkrieg zerrissene Libyen, von dem aus die meisten Flüchtlinge ihre Überfahrt starten, kommt dafür nicht infrage. Dasselbe würde – theoretisch – auch für staatliche Schiffe gelten, würde etwa die Bundesregierung eine Seenotrettungsmission initiieren. Eine solche Mission gibt es nicht.

Stattdessen unterstützt Deutschland die sogenannte libysche Küstenwache, Milizen einer Bürgerkriegspartei. Schiffe dieser Milizen wurden vom italienischen Staat gestellt, die EU finanziert die Ausbildung der Besatzungen und deren Ausrüstung.

Die sogenannte Küstenwache geht in internationalen Gewässern gegen die verbliebenen zivilen Seenotretter vor – auch mit Waffengewalt. Schiffe wurden bedrängt und gerammt, es fielen Schüsse. Vor allem aber bringen die Milizen aufgegriffene Flüchtlinge grundsätzlich zurück nach Libyen – und internieren sie dort in Lagern. In diesem Jahr wurden bislang 5000 Menschen inhaftiert.

Vergewaltigungen und Zwangsarbeit in den Lagern

Was ihnen dort widerfährt, bezeichnen NGOs und auch die UN als eklatante Verstöße gegen das Menschenrecht. Die Zustände in den Lagern seien „absolut schrecklich“, sagt etwa Safa Msehli von der Internationalen Organisation für Migration (IOM), einer Unterorganisation der Vereinten Nationen. Bis September vergangenen Jahres arbeitete Msehli in Tripolis, inspizierte von dort aus etliche Lager. Am Telefon berichtet sie von stark überfüllten Räumen, Wasser- und Nahrungsmangel. Inhaftierte, mit denen Msehli sprechen durfte, erzählten von Missbrauch und Fällen, in denen Mitgefangene entführt wurden.

Viele Flüchtlinge in den Lagern sind traumatisiert. In einem traf Safa Msehli ein 14-jähriges schwangeres Mädchen, das auf seinem Weg nach Libyen von verschiedenen Schmugglern und Schleusern missbraucht worden war und nun versuchte, die Schwangerschaft zu verheimlichen: „Sie wusste nicht einmal, wer der Vater sein würde.“

Safa Msehli durfte jedoch nur offizielle Gefängnisse besuchen. Daneben gibt es auch solche, zu denen Hilfsorganisationen keinen Zugang haben – geschätzte 1000 Migranten sind in den vergangenen sechs Monaten dorthin gebracht worden. Überlebende berichten von Gewalt, Verstümmelung und Versklavung. Inhaftierte würden gefoltert, um Verwandte zu Lösegeldzahlungen zu zwingen.

Safa Msehli sagt: Libyen ist definitiv kein sicherer Ort, an den Gerettete zurückgebracht werden dürften.

Die systematischen Menschenrechtsverletzungen sind auch der Bundesregierung bekannt. Das Auswärtige Amt verglich die libyschen Gefängnisse vor drei Jahren mit „Konzentrationslagern“. Zur Rechtswidrigkeit der Rückführungen nach Libyen befragt, reagiert die Bundesregierung seit Jahren mit der Feststellung, sie werde darauf hinwirken, dass die libyschen Partner künftig „geltendes Recht einhalten“.

Dass die Europäische Union weiterhin die sogenannte Küstenwache und das System der Rückführungen unterstützt, hält „SOS Méditerranée“ für einen Skandal: „Völkerrechtsbruch und die Gefährdung von Menschenleben werden so billigend in Kauf genommen.“ In einem gerade veröffentlichten Report hat die Hilfsorganisation auf 70 Seiten Vergehen der Libyer dokumentiert. Sie fordert, ein eigenes Rettungsprogramm der EU-Staaten zu initiieren. Dies sei umso notwendiger, da die Zahl der Flüchtenden in den kommenden Monaten stark zunehmen könnte.

Seit die Türkei Anfang des Jahres die libysche Regierung und deren Milizen massiv aufrüstete, konnten diese im Bürgerkrieg gegen Warlord Khalifa Haftar an Boden gewinnen – was dazu führte, dass vertriebene Schleuserbanden in Küstenorte zurückkehren konnten und nun wieder verstärkt Fluchtwillige in Schlauch- und Holzbooten auf dem Meer aussetzen.

Während die EU vor Libyen auf dortige Milizen setzt, verstößt 1000 Kilometer nordöstlich die Küstenwache eines Mitgliedsstaats gegen internationales Recht. Vor der Insel Lesbos wurden im Juni mehrfach Flüchtlinge von der griechischen Küstenwache aufs offene Meer gebracht, dort in aufblasbaren Rettungsinseln ausgesetzt und sich selbst überlassen. Andere Migranten, die versuchten, von der Türkei nach Lesbos zu gelangen, werden in internationalen Gewässern von der Küstenwache abgefangen, ihre Boote zurück in Richtung türkisches Hoheitsgebiet gezogen, die Motoren anschließend unbrauchbar gemacht. Mehrere dieser illegalen Aktionen sind auf Videos dokumentiert.

Gorden Isler, der Sprecher von „Sea-Eye“, sagt am Telefon, man müsse differenzieren. Innerhalb der Bundesregierung schwele ein Dissens. Während das Auswärtige Amt betont, Seenotrettung sei eine rechtliche wie humanitäre Verpflichtung, auch der „Beitrag privater Seenotrettung“ sei wichtig und dürfe nicht behindert werden, agieren zwei CSU-geführte Ministerien entgegengesetzt.

Im April schrieb das Innenministerium unter Horst Seehofer die deutschen Seenotretter an und appellierte, wegen Corona „derzeit keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen“. Aktiv – und wirkungsvoll – behindert das Verkehrsministerium unter Andreas Scheuer die Retter: Durch den Austausch eines einzigen Wortes in einer Bundesverordnung hat sie gleich mehrere deutsche Boote stillgelegt.

Laila Sieber/Sea Watch
Allein im Juni sind offiziell mindestens 96 Menschen ertrunken. Die wahre Zahl dürfte höher liegen.LAILA SIEBER/SEA WATCH

Erst im vergangenen Jahr hatte das Oberverwaltungsgericht Hamburg bestätigt, bei der privaten Seenotrettung handle es sich um eine politisch-humanitäre Tätigkeit, die unter Freizeitgestaltung falle. Derart genutzte Sportboote benötigen, im Gegensatz zu kommerziell betriebenen, kein sogenanntes Schiffssicherheitszeugnis.

Das Verkehrsministerium konterte das Gerichtsurteil nun, indem es eine Verordnung reformierte, die regelt, wer ein solches Zeugnis nicht vorweisen muss: Dabei wurde das Wort „Freizeit“ durch „Erholung“ ersetzt. Da sich die Lebensretter bei ihren Einsätzen nicht erholen, müssen sie nun den fraglichen Schein erwerben. Wie genau sie ihre Schiffe dafür umrüsten müssen und welche Kosten dabei anfallen, ist ihnen unklar.

Vom Verkehrsministerium haben sie keine Hilfe zu erwarten. Ein Sprecher des Ministeriums sagte bei der Vorstellung der Änderung am 10. Juni in der Bundespressekonferenz auf eine entsprechende Frage hin: „Die verantwortliche Dienststelle Schiffssicherheit steht sicherlich als Ansprechpartner zur Verfügung, wenn es um die Umsetzung der Maßnahmen geht.“ Eine Absicht, die Seenotrettung einzuschränken, bestreitet er. Der Gesetzesanpassung hätten „ausschließlich schiffssicherheitsrechtliche Erwägungen zugrunde“ gelegen.

Die wenigen, die aktuell noch operieren dürfen, sollen aber bald Verstärkung bekommen: Im Juli soll das neue Rettungsschiff „Sea-Watch 4“, das unter anderem von der evangelischen Kirche mitbetrieben wird, erstmals vor der libyschen Küste kreuzen, derzeit liegt es noch in einem spanischen Hafen. Der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der das Projekt in den vergangenen Monaten vorantrieb, wirft der EU „moralisches Versagen“ vor.

Insbesondere wehrt er sich gegen Einwände, durch die Seenotrettung entstehe ein „Pull-Effekt“, der immer mehr Menschen zur Flucht über das Mittelmeer animiere: Wie Studien übereinstimmend belegten, habe es keine Auswirkungen, ob Rettungsschiffe auf See seien oder nicht. In Hamburg rüsten Ehrenamtliche derweil ein aufgekauftes Torpedofangboot der Bundeswehr um. Die „Rise Above“ soll ebenfalls im Mittelmeer aushelfen.

Die Verordnungsänderung des Verkehrsministeriums und die damit verbundenen Umbauten werden das Auslaufen zwar verzögern, sagt der „Rise Above“-Gründer, aber auf keinen Fall stoppen.

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So wird es weitergehen, sagt Gorden Isler von „Sea-Eye“. „Die Behörden denken sich neue Schikanen aus, wir versuchen irgendwie zu reagieren.“ Es sei ein ewiges Katz-und-Maus-Spiel, nur eben eines, bei dem Menschen sterben.

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PUSH-BACKS AN EU-AUSSENGRENZE                           ©Migazin.de-21.4.2020

Wissenschaftlicher Dienst stärkt Rechte von Geflüchteten

Immer mehr Geflüchteten wird der Zugang zu einem fairen Asylverfahren in Europa durch sogenannte „Push“ oder auch „Pull-Back“ Operationen verwehrt. Nun hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags gleich in zwei Ausarbeitungen das Recht von Geflüchteten gestärkt.

Immer mehr Geflüchteten wird der Zugang zu einem fairen Asylverfahren in Europa durch sogenannte „Push“ oder auch „Pull-Back“ Operationen verwehrt. Nun hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags gleich in zwei Ausarbeitungen das Recht von Geflüchteten gestärkt.

Die europäische Abschottungspolitik hat dazu geführt, dass immer mehr Geflüchtete gar nicht erst die Chance erhalten, einen Asylantrag in Europa zu stellen, denn bereits an den Außengrenzen werden sie zurückgewiesen. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) dokumentieren diese Vorgehensweise, sei es an Land im türkisch-griechischen Grenzgebiet, an den Außengrenzen in der Balkanregion oder auf See, beispielsweise auf der zentralen Mittelmeerroute. Schutzsuchende werden systematisch ihres Rechts auf effektiven Zugang zu einem individuellen Asylverfahren beraubt und stattdessen, häufig unter Anwendung von Gewalt, in Länder zurückgeführt, die mit der Aufnahme überfordert sind und keinen adäquaten Schutz gewährleisten. Moralisch ist das Vorgehen der EU und ihrer Grenzschutzagentur Frontex verwerflich, aber wie sieht es mit der rechtlichen Einordnung dieser Abschottungsmaßnahmen aus?

Refoulementverbot schützt Geflüchtete vor Zurückweisung

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags hat sich im März gleich zweimal mit der Zurückweisung/Zurückschiebung von Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen beschäftigt. Konkret handelt es sich um eine völkerrechtliche Einordnung der „Push-Backs“, die vor einigen Wochen am türkisch-griechischen Grenzübergang bei Pazarkule durch griechische Grenzschutzbeamte stattgefunden haben sowie um eine rechtliche Einordnung der Seenotrettung durch nicht-staatliche Akteure im Kontext libyscher „Pull-Back“ Operationen. Während sich beide Ausarbeitungen mit unterschiedlichen Formen der Zurückweisung/Zurückschiebung von Geflüchteten befassen, denen naturgemäß unterschiedliches Recht zugrunde liegt, finden sich Parallelen in der finalen Beurteilung: Beide Schriftstücke kommen zu dem Ergebnis, dass der Refoulementgrundsatz als höherrangiges Recht gegenüber staatlicher Hoheitsgewalt und anderslautender seerechtlicher Verpflichtungen gelte.

Das Refoulementverbot, verankert in diversen Dokumenten wie der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) oder auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu Artikel 3 (Verbot der Folter) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), schützt Geflüchtete vor Zurückweisung/Zurückschiebung und Abschiebung. Der Refoulementgrundsatz nimmt Staaten damit klar in die Verantwortung: Drohen Geflüchteten in anderen Ländern Folter oder unmenschliche Bedingungen, dürfen sie dieser Gefahr weder durch Zurückweisung/Zurückschiebung noch durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen ausgesetzt werden.

Nicht-staatliche Seenotrettung vor der Küste Libyens

Der Wissenschaftliche Dienst resümiert in seiner Ausarbeitung, dass sich das Refoulementverbot auch auf private Seenotrettungsakteure, beispielsweise Handelsschiffe, ausweiten lasse; und zwar auch dann, wenn, im Gegensatz zu Staaten, zunächst keine rechtliche Verbindlichkeit vorliege. Es bestehe nämlich die Möglichkeit, dem Refoulementverbot innerstaatlich Vorrang vor anderslautenden, widersprüchlichen rechtlichen Verpflichtungen einzuräumen und damit das rechtliche und ethische Dilemma, in dem sich viele private Seenotretter befinden, aufzulösen. Laut Artikel 25 Grundgesetz sind die allgemeinen Völkerrechtsnormen, und damit auch das Refoulementverbot, in ihrer Wichtigkeit vor einfachem nationalen Recht zu werten. Sollten diese Rechte kollidieren, beispielsweise wenn Schiffe unter deutscher Flagge, laut Verordnung über die Sicherung der Seefahrt (§ 2 SeeFSichV), eigentlich den Anweisungen der libyschen Seenotrettungsleitstelle zur Rückführung von Geflüchteten in die libyschen Elendslager Folge leisten müssten („Pull-Back“), steche das Refoulementverbot als höherrangiges Recht die Befolgungspflicht nach Paragraf 2 SeeFSichV.

Der Wissenschaftliche Dienst geht noch weiter: Private Seenotretter könnten sich nach deutschem Recht im Falle einer Beteiligung an libyschen „Pull-Backs“ sogar strafbar machen. Die Übergabe Schutzsuchender an ein Land wie Libyen, welches den Menschenrechtsstandards nachweislich nicht gerecht werde, erfülle den Straftatbestand der Aussetzung (§ 221 StGB); Menschen würden aus sicherer Obhut in eine hilflose Lage versetzt werden, in der ihnen Gefahr für Leib und Leben drohe.

Seit Jahresbeginn sind auf der Mittelmeerroute, Daten der Organisation Missing Migrants zufolge, bereits 253 Migranten ums Leben gekommen (Stand 16.04.20); die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher. Mit 146 Opfern ist die zentrale Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien/Malta besonders tödlich.

„Push-Backs“ im türkisch-griechischen Grenzgebiet

Auch im Falle der Anfang März stattgefundenen „Push-Backs“ an der türkisch-griechischen Grenze kommt der Wissenschaftliche Dienst in einer Ausarbeitung vom 31. März 2020 zu dem Ergebnis, dass Griechenland das Refoulementverbot verletzt hat. Schutzsuchende wurden gewaltsam an der Einreise in die EU gehindert, Geflüchtete, denen die Einreise nach Griechenland trotzdem gelang, umgehend in die Türkei zurückgeschoben. Griechenland hatte diese Maßnahmen mit einer 30-tägigen Grenzschließung sowie der Aussetzung des Asylsystems für Schutzsuchende, die trotz geschlossener Grenzen „illegal“ einreisen konnten, legitimiert. Auch wenn sich das Refoulementverbot im eigentlichen Sinne auf das Verbot aufenthaltsbeendender Maßnahmen beziehe und damit Geflüchtete betreffe, die sich bereits im Land aufhalten, dominiere mittlerweile eine extraterritoriale Anwendung des Refoulementgrundsatzes den völkerrechtlichen Diskurs. So findet beispielsweise Artikel 33 der GFK (Verbot der Ausweisung und Zurückweisung) überall dort Anwendung, wo Staaten im Sinne ihrer Hoheitsgewalt Kontrolle über Schutzsuchende ausüben. Dies beinhaltet selbstverständlich auch Grenzen, an denen Geflüchtete Asylanträge stellen dürfen. Wie verhält es sich nun, wenn Staaten ihre Grenzen schließen, um das Stellen von Asylanträgen bewusst zu verhindern?

Sinn-Zweck Argument steht Griechenlands Maßnahmen entgegen

Laut Gutachten steht schon das Sinn-Zweck-Argument (prima facie) den griechischen Maßnahmen entgegen, denn das Recht auf Non-Refoulement würde leerlaufen, wenn sich einzelne Staaten durch Abschottung ihrer asylrechtlichen Verpflichtungen entziehen könnten. Der gängigen Rechtsprechung des EGMR folgend, müsste Griechenland im Sinne einer EMRK-konformen Ausgestaltung seines Grenzregimes also reguläre Grenzübergangsmöglichkeiten schaffen, um effektive Zugänge zu individuellen Asylverfahren zu ermöglichen. Auch das Argument Griechenlands, die Türkei sei ein sogenannter „sicherer Drittstaat“, in denen Geflüchteten weder Folter noch unmenschliche Behandlung drohe, greife zu kurz. Zurückweisungen in „sichere Drittstaaten“ müsse immer auch eine individuelle Prüfung von Asylgesuchen vorausgehen. In diesem Zuge seien auch drohende Kettenabschiebungen in andere Staaten zu berücksichtigen.

Ob die Türkei als „sicherer Drittstaat“ klassifiziert werden kann, ist bereits vor Inkrafttreten des EU-Türkei Deals im Jahr 2016 stark umstritten gewesen. Die Türkei hat die GFK lediglich mit geografischem Vorbehalt ratifiziert; zahlreiche NGOs, wie Human Rights Watch, berichten bereits seit Monaten über menschenrechtsverletzende Zustände, wie erzwungene Rückreisen von Syrern in Kriegsgebiete. Geflüchtete werden zunehmend als machtpolitischer Spielball missbraucht. Dies zeigt sich auch wieder aktuell. Ähnlich zu den Vorfällen Anfang März hat die Türkei nun wieder bewusst Geflüchtete in Richtung der griechischen Grenze geschickt.

Übrigens rechtfertige auch der Ausbruch einer Pandemie grundsätzlich kein Außerkraftsetzen des Refoulementverbots, da es als notstandsfestes Menschenrecht nicht ausgesetzt werden dürfe. Auch das deutsche Infektionsschutzgesetz sehe bisher keine asylrechtlichen Ausnahmen vor; lediglich die Einreiseverweigerung zwecks Quarantänemaßnahmen sei gerechtfertigt.

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Presseerklärung vom 17.4.2020 des Landesflüchtlingsrates

 

Aufnahme aus Griechenland: PRO ASYL und Landesflüchtlingsräte fordern Bund und Länder zum sofortigen Handeln auf

Aufnahme von 55 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist lächerlich gering

Am kommenden Samstag landen in Niedersachsen 55 unbegleitete Kinder im Alter von 8-17 Jahren, deren Aufnahme Deutschland nach langem Gezerre zugestimmt hat. PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte kritisieren diese Zahl als lächerlich gering. Die Aktion droht zu einem Feigenblatt zu verkommen für die Nicht-Aufnahme Tausender Geflüchteter, die in den Insellagern in Griechenland sich selbst überlassen sind. Eine Aufnahme, die ernsthaft Abhilfe schafft und angesichts der drohenden Corona-Pandemie Schlimmeres in den sogenannten Hotspots verhindert, muss anders aussehen.

Die langwierige Aktion wird der Öffentlichkeit dennoch als die große solidarische Geste Europas präsentiert. Schutzsuchende mit Angehörigen in Deutschland beispielsweise, die im Rahmen der Dublin-Verordnung ohnehin Anspruch auf die Überstellung hätten, stellen eine Gruppe dar, die weitestgehend bekannt und dokumentiert ist und deren Aufnahme keiner weiteren komplizierten Verfahren bedürfte. Diese Menschen bleiben außen vor, ebenso wie weitere Tausende, für deren Aufnahme Deutschland und die EU Mittel und Möglichkeiten hätten, diese einfach und vor allem zügig in anderen EU-Staaten aufzunehmen. 

PRO ASYL und Landesflüchtlingsräte fordern das BMI, die Bundesländer und die EU auf, schnell und pragmatisch zu handeln. Dr. Sascha Schießl vom Flüchtlingsrat Niedersachsen: 

"Die Aufnahme von 55 Kindern aus Moria muss den Auftakt für eine organisierte Rettungspolitik markieren, an deren Ende die Schließung der Lager auf den griechischen Inseln steht."

Folgende Schritte sind realistisch kurzfristig möglich:

  1. Evakuierung aus den Hotspots und Unterbringung der Schutzsuchenden in leerstehende Hotels in Griechenland. Die Hotels in Griechenland dürften aufgrund des lahmgelegten Tourismus noch lange leer stehen, diese Kapazitäten sind also kurzfristig verfügbar. Es ist weder realistisch noch flüchtlingsrechtlich zulässig, weiter auf den EU-Türkei-Deal zu setzen und unverändert die Abschiebung von mehr als 40.000 Schutzsuchenden von den griechischen Inseln in die Türkei zu betreiben. Die Türkei ist kein Staat, der Flüchtlingen Schutz nach dem internationalen Flüchtlingsrecht bietet, zudem ist das Land selbst massiv von der aktuellen Pandemie betroffen. Es müssen pragmatische Dauerlösungen erschlossen werden, die mit dem Asyl- und Flüchtlingsrecht in Einklang stehen: Aufnahme, Versorgung, Zugang zu einem Asylverfahren und Schutz in der EU. 

  2. Die einzige Lösung wird auf Dauer die Aufnahme in anderen EU-Staaten sein. Deutschland als Land, das sich mit allen Kräften und breiter gesellschaftlicher Unterstützung gegen die Ausbreitung der Pandemie stemmt, ist gefordert voranzugehen. Es ist unerträglich, dass hierzulande Aufnahmeräumlichkeiten leer stehen und dennoch monatelang über Aufnahmekriterien diskutiert wird, statt zu handeln und Geflüchtete umgehend aufzunehmen. 

Die Bundesregierung hat es bewerkstelligt, rund 200.000 deutsche Urlauber*innen aus der ganzen Welt in organisierten Charterflügen nach Deutschland zu holen. Die Aufnahme Schutzsuchender aus den Lagern auf den griechischen Inseln dürfte logistisch keine Herausforderung sein, wenn der politische Wille da ist. Zu fordern ist, dass Geflüchtete ggfs. unter Einhaltung aller epidemiebedingten Gesundheitsvorkehrungen wie Testung und Quarantänemaßnahmen nach Deutschland einreisen können. 

  1. Schutzsuchende mit Familienangehörigen in Deutschland aufnehmen. Die monatelange, zermürbende Diskussion um die Kriterien der Aufnahme und das Bestehen auf Dossiers aus Griechenland ist völlig absurd. Die am besten dokumentierte Gruppe sind all diejenigen, die Angehörige in Deutschland haben. Seit 2018 lehnt das BAMF Dublin-Übernahmeersuche aus Griechenland vehement ab. Knapp 1.700 solcher Ersuche aus Griechenland standen 2019 fast 1.400 Ablehnungen des BAMF gegenüber. Ein ähnliches Bild in 2018: Von 2.139 Übernahmeersuchen an Deutschland – 90% davon aufgrund familiärer Bindungen – wurden rund 1.500 abgelehnt. Dies waren also fast 3.000 Ablehnungen in zwei Jahren.

Doch bei all diesen Menschen, die so oft nur als Zahlen behandelt werden, handelt es sich um Menschen, die in den Elendslagern auf den Inseln festsitzen und aufgrund von engen Familienangehörigen einen Rechtsanspruch auf ein Asylverfahren in Deutschland haben.

  1. Länderaufnahmeaktionen starten. Unzählige Kommunen in allen deutschen Bundesländern haben ihre Bereitwilligkeit zur Aufnahme signalisiert. PRO ASYL und die Landesflüchtlingsräte fordern, den politischen Willen endlich in Handeln umzusetzen. Die Bundesländer und die Kommunen müssen in ihren Bereich all diejenigen sofort aufnehmen, deren Angehörige im jeweiligen Bundesland sind. PRO ASYL und Flüchtlingsräte verweisen auf die Bereitschaft einiger Länder, z.B. des Landes Berlin: »Wir würden uns freuen, wenn über die vorgenannte konkrete Personengruppe hinaus für weitere Menschen aus dem Flüchtlingslager Moria, die bereits familiäre Beziehungen nach Deutschland haben, eine kurzfristige Aufnahme in Deutschland geprüft wird. Und das könnte beispielsweise auch für schwangere Frauen oder beispielsweise für chronisch erkrankte Menschen gelten«, appellierte der Berliner Innensenator an den Bundesinnenminister am 14. April. Auch aus Niedersachsen und Thüringen ließ sich eine größere Aufnahmebereitschaft vernehmen. Migrationsminister Dirk Adams ließ gegenüber der dpa verlauten, dass allein sein Bundesland 200 bis 250 Menschen aufnehmen könnte. 

PRO ASYL und Flüchtlingsräte erwarten aber, dass Berlin und andere aufnahmewillige Länder nun nicht nur an den Bund appellieren, sondern selbst handeln.

Hintergrundinformationen zur am schnellsten evakuierbaren Gruppe

Eine Vielzahl der in Griechenland auf den Inseln festsitzenden Flüchtlingskinder hat Angehörige, die bereits in Deutschland leben und hier im Asylverfahren sind. Ihre Aufnahme ist dabei kein Gnadenakt sondern beruht auf einem Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Er folgt aus der Dublin-Verordnung. Nach Artikel 21 muss dabei innerhalb von drei Monaten von Griechenland aus ein sogenanntes Aufnahmegesuch an Deutschland gestellt werden.

An dieser Frist scheitern aktuell jedoch viele Asylsuchenden. Wer in Dreck und Morast von Moria und anderen Hotspots festsitzt, hat kaum Zugang zu rechtlichen Strukturen. Und Deutschland lehnt Übernahmeersuche von Familienangehörigen aus Griechenland mittlerweile systematisch mit der Begründung, die Fristen seien bereits abgelaufen, ab.

Insbesondere problematisch: Es geht überwiegend um Menschen, die in den Elendslagern auf den Inseln festsitzen – und die aufgrund von engen Familienangehörigen einen Rechtsanspruch auf ein Asylverfahren in Deutschland hätten. Die überwältigende Mehrheit der Übernahmeersuche aus Griechenland ist auf die Zusammenführung von Familienangehörigen zurückzuführen, 2019 waren dies 86% aller Ersuche, 2018 sogar 90%.

Häufig versäumen griechische Behörden in der Praxis Fristen und stellen die Übernahmegesuche zu spät. Das BAMF stellt in diese Fällen die Einhaltung von Fristen regelmäßig höher als die Einheit von Familien. Dauerhafte Trennungen sind die Folge. Spätestens jetzt muss die lange überfällige, schnelle und unbürokratische Familienzusammenführung von Schutzsuchenden in Griechenland mit ihren Verwandten in Deutschland umgesetzt werden.

Im Bericht »Refugee Families Torn Apart« von PRO ASYL und RSA wird diese systematische Aushebelung des Familiennachzugs dokumentiert.

 

Hintergrundinformationen zur Situation im Lager Moria auf der Insel Lesbos 

Während auch in Griechenland das öffentliche Leben stillgelegt ist, um körperlichen Kontakt zu minimieren und damit der Ausbreitung von Covid-19 entgegen zu treten, müssen seit Mitte März 2020 rund 41.000 Schutzsuchende in meist informellen Unterkünften innerhalb und außerhalb der fünf EU-Hotspots auf den ägäischen Inseln ausharren. Über die Hälfte sind Frauen, Kinder und Jugendliche.

Das Lager Moria auf Lesbos ist ein einziger Albtraum: Ende Januar 2020 gab es dort drei Ärzte, acht Krankenschwestern und sieben Dolmetscher für knapp 20.000 Menschen. In Teilen des Lagers müssen sich bis zu 500 Personen eine Dusche teilen. Zwischen September 2019 und Januar 2020 wurden sieben Todesfälle bestätigt. Es keinen ernstzunehmenden Notfallplan für den Fall, dass Covid-19 das Lager erreicht. Simple Präventionsmaßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen können nicht eingehalten werden. Risikogruppen, etwa ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen, können sich zum Schutz nicht selbst isolieren. Es droht eine rasante Ausbreitung des Virus. Um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern, hat die griechische Regierung eine teilweise Ausgangssperre für Moria Hotspots verhängt.

Dr. Sascha Schießl

Referent der Geschäftsführung

Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Röpkestr. 12 | 30173 Hannover

Seenotrettung, Flüchtlinge, Mittelmeer, Alan Kurdi, Sea Eye, Schiff, Boot
Rettungsschiff Alan Kurdi im Mittelmeer © Sea Eye/Fabian Heinz

QUARANTÄNE-SCHIFF NICHT IN SICHT

Dramatische Szenen auf Rettungsschiff „Alan Kurdi“

Durch die Corona-Krise ist die Seenotrettung im Mittelmeer kaum noch möglich. Rettungsschiffe haben es extrem schwer. Denn Italien und Malta haben ihre Häfen geschlossen. Mehr als 140 Flüchtlinge müssen seit zehn Tagen an Bord ausharren.

Freitag, 17.04.2020, 5:23 Uhr

Die Lage auf dem deutschen Rettungsschiff „Alan Kurdi“ mit mehr als 140 Flüchtlingen an Bord spitzt sich offenbar zu. „Die Menschen sind total verzweifelt und werden seit zehn Tagen auf der ‚Alan Kurdi‘ festgehalten“, sagte Einsatzleiter Jan Ribbeck von der Regensburger Organisation Sea-Eye, die das Schiff betreibt, am Donnerstag. Die Seenotrettung ist wegen der Corona-Krise extrem erschwert. Die Häfen von Italien und Malta sind geschlossen

Drei Personen mussten von der „Alan Kurdi“ weggebracht werden. Dabei sollen sich dramatische Szenen abgespielt haben, als sich drei Boote der italienischen Küstenwache näherten. „Sie deuteten an, ins Wasser springen zu wollen, um die italienischen Boote zu erreichen und ließen sich kaum beruhigen.“

Quarantäne-Schiff nicht in Sicht

Das vom italienischen Verkehrsministerium angekündigte Quarantäne-Schiff war auch am Donnerstag noch nicht in Sicht. „Wir haben weder aus Berlin, noch aus Rom belastbare Hinweise auf Zeitpunkt und Ort der Evakuierung auf ein Quarantäneschiff erhalten“, sagte Sea-Eye-Vorsitzender Gorden Isler dem „Evangelischen Pressedienst“. „Wir warten inzwischen seit Ostersonntag auf dieses Schiff.“Auch den etwa 40 weiteren Flüchtlingen auf dem spanischen Rettungsschiff „Aita Mari“ wird momentan ein sicherer Hafen verwehrt. „Die gesteigerte Brutalität gegen Flüchtende und die neue Härte gegen Rettungsorganisationen kann nur mit dem Versuch der abschreckenden Wirkung erklärt werden“, sagte Isler. „Ein solidarisches Verhalten der EU-Mitgliedsstaaten gegenüber Italien und Malta ist längst überfällig.“

 

Sieben Personen vermisst

Zuvor waren weitere Seenotfälle im Mittelmeer bekanntgeworden. Maltesische Medien und die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichteten, dass in maltesischen Gewässern ein Boot mit fünf Toten an Bord gefunden wurde.

Ein Handelsschiff habe die 51 Überlebenden und die Toten aufgenommen und nach Libyen gebracht, nach ihren Angaben wurden sieben weitere Personen vermisst. Die Organisation Alarm Phone vermutete, dass es sich um das Boot handelt, das vor Tagen einen Notruf absetzte und dann vermisst wurde.

Internationale Organisationen warnen

Der IOM-Chef in Libyen, Federico Soda, warnte, dass Flüchtlinge und Migranten nach Fluchtversuchen in Internierungslager gesperrt würden. Kriminelle nähmen sie auch in Geiselhaft, um Lösegeld zu erpressen. Die Vereinten Nationen haben wiederholt betont, dass das Bürgerkriegsland Libyen kein sicherer Hafen für Flüchtlinge sei. Zuletzt haben die Kämpfe zwischen Truppen der Regierung von Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch und Einheiten des Rebellengenerals Chalifa Haftar wieder zugenommen. Wegen Corona wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.

Auch in Südostasien versuchen Menschen, über das Meer zu fliehen. Die Küstenwache von Bangladesch rettete fast 400 Rohingya-Flüchtlinge aus Seenot, wie die Zeitung „Dhaka Tribune“ am Donnerstag berichtete. 28 seien nach Angaben der Überlebenden gestorben. Die erschöpften und ausgemergelten Menschen waren offenbar vor zwei Monaten aus den Camps in Cox’s Bazar im Südosten von Bangladesch aufgebrochen, um nach Malaysia zu gelangen, wo sie aber abgewiesen wurden. Die meisten seien Frauen und Kinder. (epd/mig)


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SOS MEDITERRANEE will den lebensrettenden Einsatz mit dem Schiff Ocean Viking so schnell wie möglich wieder aufnehmen - unabhängig vom angekündigten Rückzug des medizinischen Partners Ärzte ohne Grenzen
 
Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer,

die fortschreitende Ausbreitung des Coronavirus stellt die europäischen Staaten und insbesondere Italien vor erhebliche Herausforderungen. Maßnahmen zur öffentlichen Gesundheit dürfen nicht auf Kosten der Seenotrettung geschehen. Internationales Recht und humanitäre Prinzipien sind wegen der Covid-19-Krise nicht ausgesetzt. Bei der Seenotrettung im Mittelmeer geht es nicht um die Grenzen von Italien oder Malta, sondern um die Außengrenze Europas. Mehr denn je dürfen die Küstenländer der EU jetzt nicht allein gelassen werden.

Seit Beginn unseres Einsatzes füllen wir eine Lücke, werfen Licht auf einen humanitären Skandal und agieren stellvertretend für die eigentlich Verantwortlichen, die europäischen Staaten. Sie kommen ihrer Verantwortung und Pflicht, Menschen aus Seenot zu retten und an einen sicheren Ort zu bringen, immer weniger nach. Gleichzeitig wird unsere lebensrettende Arbeit kontinuierlich in Frage gestellt und erschwert, der moralische und rechtliche Imperativ zum Leben retten immer mehr aufgeweicht oder – wie zur Zeit - außer Kraft gesetzt.

Heute schreiben wir euch schweren Herzens. Nach vier gemeinsamen Jahren im Einsatz auf See endet zum 31. Juli 2020 unsere Partnerschaft mit Ärzte ohne Grenzen. 30.701 Menschen konnten wir seit 2016 gemeinsamen erst mit der Aquarius und später der Ocean Viking vor dem Ertrinken retten, professionell medizinisch versorgen und an einen sicheren Ort bringen. Dass diese intensive und erfolgreiche Partnerschaft endet, bedauern wir sehr. Nicht zuletzt ist diese Entscheidung das Ergebnis ständigen Drucks und zunehmender politischer Hürden durch europäische Staaten, die Seenotrettung im zentralen Mittelmeer erschweren und behindern.

Der Rückzug der europäischen Staaten aus dem Mittelmeer hat im Zuge der Corona-Pandemie ein neues Maß an Grausamkeit erreicht: Indem das Bundesinnenministerium Seenotrettungs-organisationen dazu auffordert, ihren Einsatz einzustellen und Italien und Malta ihre Häfen schließen, werden diejenigen allein gelassen, die die vielbeschworene Solidarität dringend brauchen: Kinder, Frauen und Männer auf der Flucht. Für die Menschen, die vor den katastrophalen Zuständen in Libyen über das Mittelmeer fliehen, wird so das Risiko noch größer, bei der lebensgefährlichen Flucht zu ertrinken oder von der libyschen Küstenwache zurück nach Libyen in den Kreislauf aus Gewalt und Ausbeutung gezwungen zu werden.

Mit der Erklärung Italiens und Maltas, die eigenen Häfen für aus Seenot gerettete Menschen zu schließen und als unsicher zu deklarieren, wird es unmöglich gemacht, Gerettete schnellstmöglich an einen sicheren Ort zu bringen, wie es das internationale Seerecht vorschreibt. Stattdessen müssen Rettungsschiffe damit rechnen, lange auf See auf sich allein gestellt zu sein: Eine Versorgung mit Nahrungsmitteln, Treibstoff oder medizinisch notwendige Evakuierungen können nicht sichergestellt werden. Dies hat auch Auswirkungen auf die Sicherheit der Crew und  Geretteten.   

Nach einer sorgfältigen Analyse der jetzigen Situation ist SOS MEDITERRANEE der Ansicht, dass die derzeitige Lage eine sofortige Rückkehr in das zentrale Mittelmeer nicht erlaubt. Weil SOS MEDITERRANEE und Ärzte ohne Grenzen unterschiedlicher Auffassung sind, unter welchen Bedingungen eine Wiederaufnahme unseres Einsatzes auf See möglich wäre, haben Ärzte ohne Grenzen uns vergangene Woche über die Entscheidung in Kenntnis gesetzt, sich aus der Partnerschaft zurückzuziehen. 

Das Ende unserer Partnerschaft mit Ärzte ohne Grenzen ändert nichts an unserer Entschlossenheit, weiter Leben zu retten. Wir setzen alles daran, so schnell wie möglich mit der Ocean Viking in den Einsatz auf See zurückzukehren. Gespräche mit anderen möglichen medizinischen Partnern, die bereit und entschlossen sind, sich mit uns der Herausforderung zu stellen, weiterhin Leben zu retten, laufen bereits.

Berichten zufolge sind in den letzten zehn Tagen mehr als 1.000 Menschen an Bord von nicht seetüchtigen Booten aus Libyen geflohen. Hunderte wurden abgefangen und gewaltsam nach Libyen zurückgebracht, fünf Menschen starben, sieben weitere werden vermisst Am vergangenen Wochenende wurden zwar mehrere Notrufe von zivilen Organisationen gemeldet. Doch die Staaten waren nicht bereit zu koordinieren oder  lebensrettende Maßnahmen durchzuführen. So haben sie das Leben Hunderter Menschen in noch größere Gefahr gebracht beziehungsweise hätten in Kauf genommen, dass jene ertrinken.  

Menschen retten ist und bleibt unsere Pflicht! Deshalb fordern wir die europäischen Staaten dringend auf, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Rettung von Menschen aus Seenot und ihre Anlandung an einem sicheren Ort gewährleisten. Als Bürger*innen, Europäer*innen und Seeleute, müssen wir den verzweifelten Frauen, Kindern und Männern, die über das Mittelmeer fliehen, helfen - sie haben sonst kaum Überlebenschancen. 

Danke, dass ihr auch in dieser schwierigen Zeit an unserer Seite steht! Eure Unterstützung macht es möglich, dass wir alles geben, um weiter Menschen vor dem Ertrinken zu retten. 

#TogetherForRescue 

Euer Team von SOS MEDITERRANEE 

17.4.2020