Nebelkerze

Merz‘ importierter Antisemitismus

Ein Satz, ein Skandal: Merz redet in Washington von „importiertem Antisemitismus“. Wer Antisemitismus nur bei Migranten sucht, sucht nicht – er lenkt ab.

Von Montag, 09.06.2025, 1

Es gibt Sätze, die sagen mehr über den Sprecher aus als über das Thema. Friedrich Merz hat in Washington so einen Satz gesagt. Auf die Frage, was er gegen Antisemitismus in Deutschland unternehme, antwortete der Bundeskanzler bei Fox News sinngemäß: „Wir tun, was wir können – aber offen gesagt, haben wir eine Art importierten Antisemitismus mit dieser großen Zahl von Migranten seit 2015.“ Zack. Da ist er wieder, der gute alte Kurzschluss aus der Abteilung „Migration gleich Problem“. Diesmal im Gewand der Fürsorge für Jüdinnen und Juden.

Was wie Anteilnahme klingt, ist in Wahrheit eine politische Nebelkerze. Merz bedient ein Narrativ, das rechte Kreise seit Jahren pflegen: Der Antisemitismus kommt von außen. Als hätte es die Shoah nicht gegeben. Als sei Judenhass nicht mit deutscher Gründlichkeit verwaltet, verordnet, und vollstreckt worden.

Dass der Begriff „importierter Antisemitismus“ von Jurymitgliedern nicht zufällig 2024 zum persönlichen Unwort des Jahres gekürt wurde, sollte dem Kanzler eigentlich zu denken geben. Die Jury begründete ihre Wahl damit, dass der Ausdruck suggeriere, Judenhass sei durch Migration entstanden – und diene als Mittel, um Muslim:innen und Menschen mit Migrationsbiografie pauschal zu stigmatisieren, während der hausgemachte Antisemitismus aus dem Blick gerät.

„Es wäre naiv zu leugnen, dass es in Teilen migrantischer Communities antisemitische Einstellungen gibt.“

Natürlich: Es wäre naiv zu leugnen, dass es in Teilen migrantischer Communities antisemitische Einstellungen gibt. Niemand behauptet das Gegenteil. Aber wer diesen Fakt zur Hauptsache erklärt, unterschlägt absichtlich den eigentlichen Befund: Der Antisemitismus in Deutschland ist nicht neu – er ist strukturell, tief verankert und sehr alt. Er sitzt in Burschenschaften, Chat-Gruppen, Leserbriefspalten, Stammtischen, Ämter, Polizeirevieren, Parlamenten, in Lehrer- und Klassenzimmern, in Schultaschen, auf Flugblättern und Ministerbänken. Und er trägt viel öfter Krawatte als Galabija.

Der aktuelle Bericht des Bundesverbands RIAS (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus) verzeichnet für 2024 einen drastischen Anstieg antisemitischer Vorfälle: 8.627 registrierte Fälle, ein Plus von 77 Prozent. Besonders auffällig: Die Zahl rechtsextrem motivierter Taten ist so hoch wie nie seit Beginn der bundesweiten Erfassung. Und dennoch nennt Merz ausgerechnet Geflüchtete. Warum? Weil man sie – im Gegensatz zu den „eigenen Jungs“ – ausweisen kann.

„Wer so rechnet, müsste ehrlicherweise seine Grenzen komplett dichtmachen.“

Die Argumentation von Merz folgt dabei einer erstaunlich schlichten Assoziationskette: Antisemitismus = Import = Migration. Doch wer so rechnet, müsste ehrlicherweise seine Grenzen komplett dichtmachen. Die sieben größten jüdischen Gemeinden außerhalb Israels melden kürzlich einen deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle. Einer Studie zufolge vertritt fast die Hälfte der Erwachsenen weltweit antisemitische Auffassungen – Experten zufolge befeuert nach dem 7. Oktober. Klar, solche Befunde schwanken, je nach bevorzugter Antisemitismus-Definition. Doch die wenigsten Menschen weltweit dürften sauber subsumieren, ob die Form ihres geäußerten Unmuts wegen der israelischen Kriegsführung in Gaza noch im Bereich des Erlaubten liegt – wenn es sie überhaupt interessiert. Und wenn wir von weltweit sprechen, sind nicht nur ferne Länder wie Japan oder Indonesien gemeint, auch in EU-Ländern wie Spanien ist Umfragen zufolge Antisemitismus derzeit besonders ausgeprägt. Oder gilt das nicht, weil spanische Erzieher:innen mit einem Fachkräftediplom im Koffer kommen oder asiatische IT-Experten dringender gebraucht werden als Antisemitismus bekämpft wird?

Wer „importiert“ sagt, meint in Wahrheit: „nicht von uns“. Das ist bequem. Denn dann lenkt man ab von der möglichen Frage, warum antisemitische Stereotype jahrzehntelang deutsche Schulbücher füllen durften oder NS-Kader deutschen Sicherheitsbehörden und Amtsstuben – oder warum etliche Straßen bis heute nach Tätern benannt sind haben. Natürlich hätte man auch Antisemitismus bekämpfen können, wo er herkommt: aus der Mitte, von rechts, aus alten Denkmustern: Das wäre aber unschön geworden, weil’s dann die Nachbarin im Amt trifft, den Horst aus dem Verein, den netten Bäcker um die Ecke oder die Pensionsansprüche des Opas.

Eigentlich hatte Merz‘ USA-Reise nicht schlecht begonnen. Er bedankte sich beim US-Präsidenten im Oval-Office für die Befreiung Deutschlands von den Nazis. Wenig später dann dieser Rückfall. Als ob ausgerechnet Amerikaner nicht wüssten, wo der Antisemitismus in Deutschland herkommt. © Migazin 

 


Jahresbericht

Juden in Deutschland unter Druck:

Rias meldet 8.600 Vorfälle

Für Juden in Deutschland sei Antisemitismus Alltag, berichtet der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen und meldet 8.600 Vorfälle. Die Organisation muss sich allerdings Kritik anhören. Rund zwei Drittel aller erfassten Fälle haben einen Israelbezug.

Donnerstag, 05.06.2025, 

Juden in Deutschland sehen sich sowohl wegen des Nahost-Konflikts als auch durch Anfeindungen von rechts massiv unter Druck und in Gefahr. „Nie zuvor wurden uns in einem Kalenderjahr mehr gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Angriffe bekannt als im vergangenen Jahr“, sagte Geschäftsführer Benjamin Steinitz zum Jahresbericht des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias). Darin sind 8.627 antisemitische Vorfälle erfasst, 77 Prozent mehr als 2023.

Dazu zählen laut Rias acht Fälle extremer Gewalt, 186 Angriffe, 443 gezielte Sachbeschädigungen und 300 Fälle von Bedrohung. Am häufigsten wurde „verletzendes Verhalten“ gemeldet: 7.514 Vorfälle fielen laut Rias in diese Kategorie, darunter 1.802 Versammlungen – letztere werden als antisemitischer Vorfall erfasst, wenn etwa im Aufruf oder in Redebeiträgen antisemitische Äußerungen dokumentiert werden. Bei 544 Vorfällen wurde ein rechtsextremer Hintergrund registriert, die höchste Zahl seit Beginn des bundesweiten Vergleichs 2020.

Zweidrittel aller Vorfälle „israelbezogener Antisemitismus“

5.857 Fälle oder 68 Prozent aller registrierten Vorfälle wurden als „israelbezogener Antisemitismus“ eingestuft, mehr als doppelt so viele wie 2023. Darunter versteht Rias unter anderem, wenn Juden in Deutschland für Handlungen der israelischen Regierung in Haftung genommen werden, wenn der Staat Israel dämonisiert und sein Existenzrecht bestritten wird. Kritik an der israelischen Regierung bleibe jedoch möglich, sagte Steinitz.

An Hochschulen registrierte Rias im vergangenen Jahr 450 antisemitische Vorfälle. An Schulen waren es 284, darunter 19 Angriffe. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel 2023 sei eine Zäsur gewesen, sagte Steinitz. „Die Gefahr, als Jude und Jüdin in Deutschland angefeindet zu werden, hat sich seit dem 7. Oktober objektiv erhöht.“ Seitdem führt Israel im Gazastreifen einen Krieg, bei der zehntausende Zivilisten getötet und Hunderttausende vertrieben wurden. Die israelische Regierung steht zunehmend international unter Druck. Ihr werden Kriegsverbrechen vorgeworfen.

Die Beispiele

Als Fälle extremer Gewalt erfasste Rias nicht nur den Angriff eines Berliner Studenten auf einen jüdischen Kommilitonen vor einer Bar Anfang 2024. In die Kategorie fällt für das Netzwerk auch der tödliche Angriff eines mutmaßlichen Anhängers der Terrormiliz IS auf dem Stadtfest in Solingen und die Attacke eines mutmaßlichen „Islamisten“ auf das israelische Generalkonsulat und ein NS-Dokumentationszentrum in München.

Unter den 186 registrierten Angriffen war einer in Oldenburg: Zwei Männer hielten dem Rias-Bericht zufolge eine jüdische Schülerin auf dem Schulweg fest und beschimpften sie als „dreckiger Jude“. In einem Leipziger Park griffen 10 bis 15 Rechtsextremisten drei Männer an, die sich über Antisemitismus unterhalten hatten. In der Sächsischen Schweiz habe ein Mann eine Frau als „Nazi“ beschimpft und geschubst, die einen Beutel mit der Aufschrift „Feminist Zionist“ dabeihatte.

Unter den 443 Sachbeschädigung waren laut Rias 50 Fälle im Wohnumfeld: Im März zum Beispiel schmierten Unbekannte in Hamburg zwei Hakenkreuze neben die Haustür eines jüdischen Ehepaars, im April markierte in Leipzig ein Davidstern das Haus einer jüdischen Person. Dies beinhalte für Betroffene die bedrohliche Botschaft: Man wisse, wo sie wohnten.

Methode und Kritik

Der Anstieg zeigt sich seit dem 7. Oktober 2023 auch in amtlichen Statistiken. Das Besondere an den Rias-Zahlen: Sie erfassen Vorfälle, die Betroffene oder Zeugen selbst bei den Meldestellen des Verbands vorbringen. Einfluss auf die Daten hat also, wie viele Menschen aktiv werden.

 

Info & Download: Der Rias-Jahresbericht "Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2024kann hier kostenfrei heruntergeladen werden.

 

 

Ein gerade veröffentlichter Bericht des deutsch-israelischen Journalisten Itay Mashiach im Namen der „Diaspora Alliance“ wirft Rias „undurchsichtige Methoden“ vor und kritisiert eine „Überbetonung des ‚israelbezogenen Antisemitismus’“. Steinitz wies dies zurück. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte: „Ich vertraue der Arbeit von Rias sehr“.

Was hilft?

Klein sprach von schockierenden Zahlen und betonte, die Bekämpfung von Antisemitismus müsse „noch fokussierter, intensiver und erfolgreicher werden“. Nötig sei das Zusammenwirken mit Ländern, Kommunen, Verbänden, Vereinen und Individuen, „damit wir am besten möglichst bald wieder sinkende Zahlen antisemitischer Vorfälle sehen“.

Sollte der Gaza-Krieg irgendwann enden, könnte dies aus Sicht der Jüdischen Studierendenunion auch die Lage in Deutschland und die Konflikte an den Unis etwas beruhigen: „Ja, ich gehe davon aus, dass sich die Lage möglicherweise etwas entspannen könnte“, sagte Verbandspräsident Ron Dekel auf eine entsprechende Frage. Doch sei es so, dass „israelbezogener Antisemitismus schon lange das Hauptproblem von Jüdinnen und Juden an Hochschulen ist und aus meiner Sicht leider auch bleiben wird.“ (dpa/mig) © Migazin