Demonstration in Stade fordert Aufklärung des Todes von Aman Alizada und politische Konsequenzen

Foto: Karl-Heinz Zulkowski-Stüben, AK ASYL Cuxhaven

Auf einer Kundgebung und im Rahmen einer Demonstration erinnerten am 21. und 22.08.2020 bis zu 250 Menschen an den Tod des afghanischen Geflüchteten Aman Alizada, der vor einem Jahr von der Polizei in seiner Unterkunft in Stade erschossen wurde, und forderten eine lückenlose Aufklärung des Falls (siehe Dokumentation unten). Auf scharfe Kritik stieß insbesondere die Entscheidung der Stader Staatsanwaltschaft im Juni des Jahres, die Ermittlungen gegen den Polizisten mit der Begründung einzustellen, es handele sich um einen Fall von „glasklarer Notwehr“. Erst auf die Beschwerde des von Alizadas Bruder eingeschalteten Rechtsanwalts ordnete die Generalstaatsanwaltschaft Celle an, dass die Ermittlungen fortzuführen sind. Ein aufschlussreicher Hintergrundbericht findet sich im AK vom 17.08.2020. Aufgrund der vielen offenen Fragen forderte nicht nur Ingrid Smerdka-Arhelger von der Bürgerinitiative Menschenrechte, sondern auch der Stader Oberbürgermeister Sönke Hartlef eine Aufklärung des Todes von Aman Alizada in einem ordentlichen Gerichtsverfahren (siehe NDR-Bericht vom 22.08.2020).

Redebeitrag des Flüchtlingsrats

Nachfolgend dokumentieren wir den Redebeitrag von Dörthe Hinz für den Flüchtlingsrat Niedersachsen:

Ein Jahr ist vergangen seit dem tragischen Tod des 19 jährigen Aman Alizada. Tod durch Schüsse aus der Pistole eines Polizisten. Der Tod von Aman Alizada bei einem Polizeiansatz am 17. August letzten Jahres in Stade wirft weiterhin Fragen auf, die beantwortet werden müssen.

Auch heute machen das Geschehen, der Tod, die Todesumstände, die Erinnerung tief betroffen und traurig. Es bleibt unbegreiflich, dass dieser junger Mensch gestorben ist, gestorben im Rahmen eines Polizeieinsatzes, der bis heute nicht lückenlos aufgeklärt ist.

Neben der Trauer macht das Geschehen aber auch wütend. Wütend, dass im Falle Amans, wie auch in vielen Weiteren ähnlichen Fällen, die Ermittlungen eingestellt wurden bzw. werden sollten. Diese Entscheidung der Stader Staatsanwaltschaft ließ aus Sicht des Flüchtlingsrates nicht nur etliche Fragen unbeantwortet, vielmehr wurden sogar weitere Fragen aufgeworfen. Es war zwingend nötig, dass die Generalstaatsanwaltschaft Celle die Staatsanwaltschaft in Stade zur erneuten Aufnahme der Ermittlungen aufforderte und die Ermittlungen jetzt weitergehen müssen. Denn die Antworten und Einschätzungen, die die Staatsanwaltschaft lieferte, sind beschämend und zeugen nicht von einer gründlichen Ermittlungsarbeit. (…) Unsere Forderung nach lückenloser und auch transparenter Aufklärung hat damit weiterhin Bestand.

„Warum eigentlich? Warum?“, fragt sich sein Bruder Rahmat, „warum fand mein jüngerer Bruder in einem der sichersten Länder der Welt den Tod durch einen Polizisten, vier Jahre nach seiner Flucht aus einer der gefährlichsten Regionen der Erde?“

Aman Alizada floh mit 15 Jahren ohne seine Eltern aus Afghanistan. Er suchte Schutz vor Verfolgung, Schutz vor Krieg. Die ersten zwei Jahre in Deutschland wohnte er mit 70 anderen Minderjährigen in einer Turnhalle statt in einer jugendgerechten Unterkunft. Kurz vor seinem 18. Geburtstag wurde sein Asylantrag abgelehnt. Kurz danach wurde auch die Unterstützung seitens der Jugendhilfe eingestellt. Sein psychischer Zustand wurde zunehmend schlechter. Er wurde krank. Er benötigte Hilfe – Hilfe, die er nicht bekam.

Der Polizei war Amans psychischer Krankheitzustand bekannt, als sie am Abend des 17.8. 2019 zu seiner Unterkunft fuhr. Wieso stirbt ein junger Mann, der sich allein in einem Zimmer befindet, wo keine weitere Person in Gefahr schwebt, der keine unmittelbar tödliche Waffe bei sich trägt – Wieso stirbt er umgeben von vier Polizisten und Polizistinnen?

Die uns bekannten Fakten lassen alles andere zu als den Schluss, dass die fünf Schüsse, in „glasklarer Notwehr“ abgegeben wurden. Nach den uns bekannten Zeug_innen-Aussagen hat sich der Polizist selbst in eine Lage gebracht, die möglicherweise für ihn bedrohlich wurde, obgleich zuvor für keinen Menschen eine Gefahr bestand. Der Beamte hat die Tür des Zimmers, in dem sich Aman Alizada allein befand, aufgetreten und ist in das Zimmer vorgedrungen. Man kann sicher allein deshalb nicht mehr von Notwehr sprechen. Die Situation war von den zwei draußen befindlichen Polizist_innen überwiegend einsehbar. Die Eskalation einer zuvor kontrollierbaren Situation bleibt unbegreiflich.

Es heißt, es habe einen Angriffsversuch von Aman gegeben. Ein Gutachten, dass die abgegebenen Schüsse untersucht hat, kommt allerdings zu der Erkenntnis, dass zwei Schüsse, von denen mindestens einer tödlich war, in Höhe des Brustbeins in Aman Alizadas Körper eintraten. Die Ergebnisse zu den Schusswinkeln legen nahe, dass Aman sich in einer sitzenden Position befunden hat, wie er es zuvor laut Zeug_innen-Aussagen auch getan hat, und dass er damit nicht in Angriffshaltung dem Polizisten gegenüberstanden haben kann. Notwehr – oder doch Totschlag? (…) Notwehr ist nur dann gegeben, wenn es keine andere Möglichkeit gegeben hat, aus der lebensbedrohlichen Situation anders herauszukommen.

Wir fragen:

  • Die psychische Erkrankung von Aman war bekannt. Warum wurden nicht frühzeitig der sozialpsychiatrische Dienst, psychologische Fachleute oder andere medizinische Hilfe eingebunden?
  • Wieso haben die beiden Beamten, die sich im Haus befanden, sich gewaltsam Zutritt zum Zimmer verschafft und damit nach dem bisherigen Erkenntnisstand ganz eindeutig die Gefahrensituation verschärft?
  • Lag auch danach überhaupt eine Notwehrsituation vor? Nicht zuletzt die Ergebnisse zu den Einschusswinkeln lassen einen anderen Schluss zu.
  • Warum wurden nicht weitere Einsatzkräfte angefordert?
  • Warum wurde nicht in Arm oder Bein geschossen?

Ist die Staatsanwaltschaft vertrauenswürdig, wenn sie einseitig ermittelt und diese Fragen nicht stellt?  (…) Der Tod von Aman Alizada, aber auch viele weitere bedenkliche Polizeieinsätze in den letzten Wochen und Monaten zeigen: Es muss sich etwas ändern bei Polizeieinsätzen. Notwendig sind Konsequenzen bei den Einsatzstrategien der Polizei. Bei Einsätzen wie in Stade muss die Polizei anders vorgehen und sicherstellen, dass niemand dabei stirbt.

Eine aktuelle Statistik zeigt auf, dass 8 von 10 Menschen, die durch Polizeieinsätze sterben, psychisch krank sind. Eine alarmierende Zahl. Es ist Unwissenheit und Überforderung, die mitunter in solchen Fällen dazu führt, das Polizist_innen nicht entschärfen, sondern vielmehr zur Eskalation beitragen. Psychisch erkrankte Menschen mit gezogener Waffe zu konfrontieren, führt oft unweigerlich zur Eskalation der Situation. Das ist alles nicht neu; umso unbegreiflicher ist es, dass es offensichtlich weiterhin an Handlungswissen mangelt und die Einbeziehung von psychologischen Fachleuten nicht standardmäßig vorgenommen wird.

Hier ist auch die Politik gefragt. Es ist auch ihre Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, Strukturen zu hinterfragen und sie zu verändern, so dass junge Menschen wie Aman und viele andere Schutz, Sicherheit und Hilfe bekommen. Die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen, an die sich Menschen richten können, ist ein wichtiger Schritt, um willkürliches Handeln in der Polizei einzuschränken und Sicherheitsbehörden demokratischer zu machen. Eine unabhängige Beschwerdestelle gibt es in Niedersachsen nicht. Sowohl die Stelle als auch die Polizei sind dem gleichen Ministerium untergestellt.

Es ist schon lange Zeit zu handeln. Doch was wir erleben ist eine aggressive Abwehrhaltung von kritischer Begleitung solcher Todesfälle. Abwehr trägt wenig dazu bei, fortschrittliche und notwendige Veränderungen in den Sicherheitsorganen voranzubringen. Ähnliches lässt sich auch bei der aktuellen Debatte um die Untersuchung zum Thema „Rassismus in der Polizei“ beobachten. Es sollte doch im Interesse aller sein, dass das Handeln von Behörden ständig überprüft und von Politik und den Behörden selbstkritisch reflektiert und, wo nötig, auch nachgebessert wird. Nur so kann das Vertrauen jedes einzelnen Menschen, der hier lebt, in die Behörden hergestellt werden.

Wir werden an diesem Fall hier dranbleiben, wir werden solange Aufklärung fordern, wie es nötig ist. Wir werden gemeinsam eine öffentliche Sichtbarkeit schaffen für Geschehnisse wie diese und für Menschen, die unsichtbar gemacht werden sollen. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen einer Demokratie, dass sich die Polizei Fragen gefallen lassen muss, wenn bei ihren Einsätzen Menschen geschädigt oder gar getötet werden. Und diese Fragen müssen auch beantwortet werden. Dies gilt umso mehr in Zeiten, in denen immer häufiger rechte Netzwerke und Rassismus in Sicherheitsorganen bekannt werden.

Wir erinnern heute auch daran, dass Aman Alizada als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling nach Niedersachsen kam. Wir erinnern daran, dass er trotz psychischer Erkrankung, trotz weiterer Unterstützungsbedarfe mit 18 Jahren aus der Jugendhilfe verwiesen wurde. Es ist inakzeptabel, dass weiterhin zu viele Jugendämter in Niedersachsen nach Vollendung der Volljährigkeit die Unterstützung einstellen. Eine Hilfe, die im Regelfall vorgesehen ist und so oft dringend benötigt wird. Der Alltag junger Flüchtlinge ist bereits vielfach belastet durch Flucht und Trennung von der Familie, er ist dominiert von Ängsten, Unwissenheit und Unsicherheiten der Betroffenen über ihre aufenthaltsrechtliche Situation und ihre Zukunft in Deutschland. Sie in dieser Situation alleine zu lassen ist fatal.

Im letzten Jahr haben wir die bestehenden Versorgungsdefizite in Stade identifiziert und benannt. Es fehlt jedoch bis heute in Stade eine den Bedarf deckenden psychosoziale und psychologische Versorgungsstruktur, es fehlen bedürfnisorientierte Angebote und Anlaufstellen für (junge) geflüchtete Menschen. Statt sich mit der Kritik auseinanderzusetzen wurde sie größtenteils abgewehrt. Es ist für uns unbegreiflich, dass es nach der Kritik von mehreren Seiten bislang keine erkennbaren Verbesserungen oder Veränderungen gibt. Wir appellieren heute erneut eindringlich an Politik und Verwaltung in Stade, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und die Versorgungsdefizite abzuschaffen.

An dem tragischen Tod von Aman Alizada können wir leider nichts mehr ändern. Aber wir können und müssen gemeinsam in all unseren unterschiedlichen Rollen, Funktionen, Verantwortlichkeiten Konsequenzen ziehen, bestehende Strukturen und das eigene Handeln hinterfragen und unter Einbeziehung von geflüchteten Menschen aus Stade eine tatsächlich offene und vielfältige Stadt gestalten, die Menschen willkommen heißt, in denen sich Menschen willkommen fühlen… und in denen Menschen wie Aman, die als Kinder oder Jugendliche aus Kriegssituationen allein fliehen müssen, sich geschützt und sicher fühlen können. Das ist unsere Aufgabe und Verantwortung, egal ob wir jetzt im Auftrag der Bundesregierung/des Staates arbeiten oder in einer unabhängigen Menschenrechtsorganisation tätig sind.

Einzelne Redebeiträge der Kundgebung und Demonstration

Rede des Bruders Rahmat Alizada

Redebeitrag Dorothea Hoffmann, Betreuerin

Rede von Ralf Poppe, Mitglied der BI Menschenwürde und Vorstandssprecher der Grünen im KV Stade, Ex-Polizist (wird noch nachgereicht)

Presseberichte

Fall Aman A.: Demonstranten fordern Aufklärung, in: Hallo Niedersachsen (NDR) vom 22. August 2020

Stade: Demo erinnert an erschossenen Flüchtling, in: NDR vom 22. August 2020

Im Gedenken an Amin Alizada: Friedliche Demo mit viel Polizei, in: Stader Tageblatts vom 23. August 2020

Nach tödlichem Polizei-Einsatz in Stade: Ermittlungen neu aufgenommen, in: Cuxhavener Nachrichten vom 23. August 2020

Todesschuss auf Flüchtling: Es wird weiter ermittelt, in: Kreiszeitung Wochenblatt vom 21. August 2020

Erschossen von deutschen Polizisten, in: analyse & kritik vom 17. August 2020

Berichte

Demonstration zum Gedenken an Aman Alizada, Bericht und Fotos des AK Asyl Cuxhaven vom 22. August 2020