Marten Brehmer: Herr Ha, zum 20. Jahrestag des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen schrieben Sie 2012, dass das Interesse der Öffentlichkeit an den Ausschreitungen zu den runden Jahrestagen immer wieder schlagartig ansteige, aber kaum nachhaltige Erinnerungsarbeit stattfinde. Hat sich zehn Jahre später daran etwas geändert?
Zum 30. Jahrestag des Pogroms plant die Stadt Rostock eine Veranstaltungsreihe. Wie bewerten Sie die Bemühungen der Stadtverwaltung, an das Pogrom zu erinnern?
Sehr schade ist, dass die Chancen und Potentiale, die mit dem dezentralen Gedenkkonzept angelegt sind, nicht genutzt wurden. So hat sich die Stadt bei dem Wettbewerb für das abstrakte Modell der Rostocker-Künstlergruppe SCHAUM entschieden. Statt die Geschichte vor Ort konkret und menschlich nahbar aufzuzeigen, werden universelle Gesten wie die Umarmung, schwer verständliche Symboliken (ein Vogelhaus) oder emotionslose Gesetzeszitate verwendet. Ihr Arbeitsmotto für das öffentliche Gedenken lautet „Die Kunstwerke wollen keine Antworten oder Schuldzuweisungen geben“. Die weißen und mit einer Grundfläche von jeweils nur 0,16 qm extrem raumsparenden Installationen fragen dementsprechend auch nicht wirklich nach Ursachen, Verantwortung und Konsequenzen. Sie sind extrem unauffällig und leicht zu übersehen, da sie oft versteckt stehen oder sich optisch im weitläufigen Stadtraum auflösen. Selbst wenn man aktiv danach sucht, sind sie nicht leicht zu finden. So bleibt der Eindruck, dass mit dem minimalistischen Mahnmal erneut nur eine Pflichtaufgabe erfüllt wurde, die im Alltag möglichst wenig stört und wehtut. Bitter bleibt auch der Nachgeschmack, dass erst nachträglich ein Mahnmal für die Roma und vietnamesischen Betroffenen des Pogroms aufgestellt wurde. Es wurde ein Jahr später von zivilgesellschaftlichen Organisationen finanziert, da die Stadt Rostock die Opfer der rassistischen Gewalt erneut vergessen hat. So werden auch im Modernisierungsprozess tradierte Strukturen reproduziert und fortgesetzt.

Stele soll an das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen erinnern © Kien Nghi Ha
Ein Bündnis antirassistischer und antifaschistischer Gruppen plant eine Großdemonstration am 27. August. Derartige Demonstrationen gab es bereits zu anderen Jahrestagen. Wie bewerten Sie diese Versuche, das Gedenken stärker zu politisieren?
Ich sehe in diesen Demonstrationen keine politische Instrumentalisierung. Meines Erachtens nach geht es bei der Demonstration darum, Solidarität mit allen Rassismusbetroffenen auszudrücken, an gesellschaftliche Ursachen und politische Verantwortlichkeiten für das Pogrom zu erinnern und eine weitergehende Aufarbeitung einzufordern. Auch sollen zivilgesellschaftliche Strukturen vor Ort gestärkt werden. Es ist klar, dass öffentlicher Druck auf kommunale Akteure aus Politik und Verwaltung notwendig ist, damit sich etwas bewegt, die Einsicht entsteht, dass Programme und Konzepte erarbeitet werden müssen und das was bisher da ist keinesfalls ein Schlussstrich sein kann. Das lokale Bündnis, dass die Demo organisiert, hat ein Positionspapier veröffentlicht. Darin fordert sie die Angriffe in Rostock-Lichtenhagen offiziell endlich als Pogrom anzuerkennen. Die Perspektiven der Betroffenen sollen in einem nachhaltigen Aufarbeitungs- und Erinnerungsprozess nicht nur einbezogen, sondern Priorität gegeben werden. Und das Bündnis spricht sich für einen gleichberechtigten Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Politik aus. Ich denke, dass diese Forderungen für eine angemessene Gedenkpolitik und Erinnerungsarbeit in der pluralen Einwanderungsgesellschaft mit demokratischem Anspruch absolut notwendig sind.
Wie könnte ein angemessenes Gedenken aussehen?
Es wäre wichtig, Strukturen und Institutionen für eine kontinuierliche Erinnerungsarbeit für die Gesellschaft zu entwickeln, zu etablieren und ausreichend zu finanzieren. Dann wäre so vieles denkbar: wöchentliche Angebote für Schulklassen und regelmäßige Führungen für alle Interessierten, ein antirassistisches soziokulturelles Zentrum mit vielfältigen Workshops und Kursen in Lichtenhagen selbst, alljährliche Kulturfestivals. Das Wichtigste wäre für mich ein Museum mit Dauer- und Wechselausstellungen, die nicht nur der Vorgeschichte, den Ablauf und Nachwirkungen des Pogroms gewidmet sind, sondern auch benachbarte Kontexte thematisiert: z.B. die Einwanderungsgeschichte der Stadt, ihre Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte und in der NS-Zeit, die Extremisierung von Nationalismus und Rassismus im Zuge der deutschen Einheit, die Geschichte rassistischer Gewalt in Deutschland, aber genauso auch eine Auseinandersetzung mit institutionalisierten Rassismus etwa in der sog. Ausländerpolitik und der Geschichte der Gast- bzw. Vertragsarbeiter:innen in West- und Ostdeutschland, Antisemitismus in Vergangenheit und Gegenwart, neue Communities von Geflüchteten aus dem Nahen Osten, Afghanistan und der Ukraine etc.
Wie wurde das Pogrom in der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung aufgearbeitet?
Es gibt einen sehr auffälligen Kontrast: Trotz der herausragenden gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Bedeutung des Pogroms sind bisher sehr wenige Forschungsprojekte durchgeführt und Publikationen veröffentlicht worden. In den letzten drei Jahrzehnten sind weniger als eine Handvoll wissenschaftlicher Monographien oder Sammelbände erschienen, die sich dezidiert mit dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen und seinen Nachwirkungen auseinandersetzen. Darüber hinaus gibt immer wieder mal einige Master- und Bachelorarbeiten von interessierten Studierenden. Es ist bisher aber kein Thema, dass ein großes Forschungsinteresse hervorgerufen hat. Was die Gründe angeht, kommen hier einige Faktoren zusammen: Vermutlich wurden die Aussichten auf eine Forschungsförderung als gering angesehen oder das Thema als wenig karrierefördernd erachtet. Vielleicht reflektiert das Desinteresse einfach die Nicht-Betroffenheit der Weißen Dominanzgesellschaft oder spiegelt auch nur den jahrzehntelang gepflegten Ritus des Wegschauens.
In Ihrer Forschungstätigkeit beschäftigen Sie sich viel mit der Gemeinschaft von Vietnamstämmigen in Deutschland. Welche Spuren hat das Pogrom in der Community hinterlassen?
Das ist schwierig zu sagen, weil es keine systematische Forschung dazu gibt, so dass wir hier auf subjektive Eindrücke und individuelle Erfahrungsberichte angewiesen sind. Sicherlich ist davon auszugehen, dass das Ereignis extrem traumatisierend wirkte und bereits bestehende Marginalisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, besonders in der vietnamesischen Community in Ostdeutschland, nochmals stark verschärft hat. Im Vorfeld hatten rassistische Reden führender Politiker:innen und die teilweise aufhetzende Medienberichterstattung ein großes Gefühl der Verunsicherung ausgelöst. Der verweigerte Schutz durch die Polizei, selbst dann als das Sonnenblumenhaus bereits in Flammen stand, war sehr dramatisch und nährte das Misstrauen gegenüber deutschen Behörden. Im Nachgang erhielten die Opfer keine Entschädigung oder Entschuldigung, sondern wurden meistens abgeschoben. Auch die geringe Anzahl von zumeist milden Strafen, die teilweise erst nach zehn Jahren zustande kamen, musste in den Augen der Opfer wie eine nachträgliche Verhöhnung des Rechtsstaats wirken.
Obwohl die zumeist aus ehemaligen Boat People-Familien bestehende Viet-Community in Westdeutschland teilweise anti-kommunistische Vorbehalte gegen die Landsleute in Ostdeutschland hatte, waren sie als Asiatisch rassifizierte Menschen von der grassierenden rassistischen Gewalt nicht ausgenommen, die trotz regionaler Schwerpunkte im gesamten Bundesgebiet wütete. Es gab natürlich Betonköpfe, die an alte Feindbilder aus den Zeiten des Kalten Krieges festhielten. Andere empfanden angesichts der überwältigenden menschlichen Not und der brutalen Gewalt eine große Empathie für die Angegriffenen. Trotz aller Differenzen brachte ironischerweise die gemeinsame Betroffenheit durch den deutschen Einheitsrassismus eine Annäherung in dieser durch koloniale Kriege geteilten Community.
Eine Beobachtung, von der Sie in zahlreichen Publikationen berichten, ist die, dass innerhalb der Community nur wenig über das Geschehene gesprochen wird. Eine Interviewpartnerin in ihrer aktuellen Veröffentlichung – eine junge Frau, deren Eltern sich zum Zeitpunkt des Pogroms in Rostock aufhielten – berichtet, dass Sie nicht von ihrer Familie, sondern von Mitschülern das erste Mal von Lichtenhagen hörte. Wie erklären Sie sich dieses Schweigen?
Die Betroffenen wurden ja auch nicht gefragt, und es ist auch nicht so, dass die deutsche Gesellschaft sich bisher übermäßig für ihre Erfahrungen und Perspektiven interessiert hätte. Obwohl seit kurzem Projekte wie „MigOst“ für selbst erzählte Migrationsgeschichte in Ostdeutschland laufen, fehlt es nach wie vor an Räumen, Archiven und Möglichkeiten zur kulturellen und gesellschaftlichen Aufarbeitung dieser Zeit. Und natürlich stellt die Sprachbarriere ein wichtiges Hindernis dar, so dass es viel Zeit braucht, um nicht nur eine (eigene) Stimme zu finden, sondern sich selbstbewusst eine Fremdsprache anzueignen und darin heimisch zu werden.
Angesichts der Tatumstände und der Verstricktheit von Politik, Medien und Sicherheitsorganen erwarteten die angegriffenen Communities keine Hilfe von der Weißen Mehrheitsgesellschaft. Ihre Erfahrungen waren diesbezüglich eindeutig: Statt Entschädigung und eine angemessene juristische Aufarbeitung der rassistischen Gewalt, waren sie von Abschiebung bedroht. Gerade die ständigen Konflikte mit deutschen Verwaltungen aufgrund des ungesicherten Aufenthaltsrechts, löste grundsätzliche Ängste aus. Wer mit solchen fortdauernden existenzbedrohenden Problemen konfrontiert ist, hat natürlich nicht den Kopf frei sich mit solchen unangenehmen Themen auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller, sich auf andere Themen zu konzentrieren und den Blick auf praktische Dinge zu richten, die die Betroffenen selbst beeinflussen können.