... und wo ist Europas Humanität ?
Die Situation in Belarus ist für die Betroffenen weiterhin unerträglich. Uns erreichen immer mehr Hilferufe von Angehörigen aus Deutschland, deren Verwandte in Belarus feststecken. Wir stellen zwei Einzelfälle vor.
PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern eine sofortige Aufnahme der Schutzsuchenden, die in Belarus gestrandet sind. Da der Zugang von internationalen Hilfsorganisationen, Aktivist*innen und Journalist*innen kaum mehr möglich ist, ist eine eilige Entscheidung notwendig, um die Katastrophe abzuwenden und Menschenleben zu retten. Es braucht jetzt umgehend eine politische Lösung, noch vor Weihnachten.
„Wir erwarten, dass Kanzler Scholz die Leisetreterei und die Politik der stillschweigenden Tolerierung der Aussetzung des Rechtsstaates an den EU-Grenzen beendet“, fordert Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. Die Koalition hat sich im Koalitionsvertrag dazu bekannt, ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen zu schützen und entschlossen für sie einzutreten – das muss sie nun umgehend tun.
„An den Grenzen Europas wird europäisches Recht gebrochen. Es ist nicht verständlich, warum Europa die Menschen im Wald verhungern und erfrieren lässt, anstatt sie aufzunehmen. Würde Deutschland sich zur Aufnahme der Menschen bereit erklären, so wäre Lukaschenkos Druckmittel demontiert“, kommentiert Aigün Hirsch vom Flüchtlingsrat Niedersachsen.
Belarussische und polnische Grenzschützer stehen sich bewaffnet an der Grenze gegenüber. Die belarussischen Behörden treiben die Schutzsuchenden auf die polnische Seite der Grenze. Die Schutzsuchenden werden aber von den polnischen Grenzschützer:innen wieder zurückgedrängt. Im Grenzgebiet müssen die Betroffenen bei frostigen Temperaturen im Wald ausharren. Für manche hat das ein tödliches Ende (siehe Fallbeschreibung unten). Der Spiegel dokumentiert in seiner neuesten Ausgabe das Leben und den Tod von 17 Geflüchteten an der EU-Grenze zu Belarus.
Selbst wenn Gruppen von Geflüchteten es mehrere Kilometer weit über die Grenze ins polnische Staatsgebiet geschafft haben, sind sie nicht in Sicherheit. Immer wieder berichten Menschen, dass die polnischen Grenzbeamten sie wieder in das Grenzgebiet zurückbringen. Es bleibt den Schutzsuchenden nichts anderes übrig, als immer wieder zu versuchen, die Grenze zu überqueren. Dabei berichten einige, dass die Sicherheitskräfte ihnen ihre Ersparnisse stehlen. Vielfach werden die Betroffenen auch in andere Grenzregionen verschleppt und erneut auf polnisches Gebiet getrieben.
Während die EU weitere Sanktionen für Belarus diskutiert, nutzt Lukaschenko Geflüchtete als politisches Druckmittel gegen die Europäische Union. Die polnische Regierung reagiert mit illegalen Pushbacks und wendet massive Gewalt an, um die Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Rechtsstaatliche Verfahren werden verweigert. Was vor wenigen Jahren noch Fantasien einer Minderheit rechter Akteur:innen war, ist Realität geworden. Dennoch lässt der öffentliche Aufschrei auf sich warten. Im Gegenteil – viele europäische Politiker:innen loben den polnischen Grenzschutz; Europa werde verteidigt. Suggeriert wird, es wäre eine Katastrophe, wenn einige tausend Menschen nach Europa einreisen würden. Geflüchtete werden zu einer Bedrohung gemacht.
Rechtswidrige Abschiebungen werden zur Realität
Nachdem Lukaschenko finanzielle Unterstützung für Belarus forderte, kündigte die EU an, 700.000 Euro für humanitäre Hilfe zu gewähren. Zusätzlich sollen 3,5 Millionen Euro für die Rückreise der gestrandeten Menschen über die Uno-Hilfsorganisationen bereitstellt werden. Dieses als „Rückreise“ beschriebene Prozedere beschreibt faktisch die von Europa finanzierte Abschiebung in die Heimatländer – rechtswidrige Abschiebungen in die Kriegs- und Krisengebiete, wie Syrien oder dem Irak werden somit zur Realität.
Eine besondere Verantwortung sehen PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen für alle Schutzsuchenden, bei denen besondere Beziehungen zu Deutschland bestehen, zum Beispiel aufgrund familiärer Bezüge. Dieser Gesichtspunkt ist bisher in der Politik überhaupt nicht wahrgenommen worden. Eine Rückkehr ins Heimatland ist für die meisten Flüchtlinge jedenfalls keine Option. Farida L.*, eine aktuell in einer Lagerhalle in Belarus gestrandete Schutzsuchende:
„Wir sind vor Krieg und Leid geflohen und suchen Sicherheit, Frieden und Stabilität. Wir würden eher durch eine Kugel oder die Kälte an Ort und Stelle sterben als zurück an diesen unsicheren Ort zurückkehren.“
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen und PRO ASYL fordern eine sofortige Aufnahme der in Belarus aufhältigen Menschen in Deutschland – auch in Niedersachsen. Da der Zugang von internationalen Hilfsorganisationen, Aktivist:innen und Journalist:innen kaum mehr möglich ist, ist eine eilige Entscheidung notwendig, um die Katastrophe abzuwenden und Menschenleben zu erhalten.
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Anhang: Dokumentation zweier Einzelfälle
Mustafa B.* ist Ende September nach Belarus eingereist. In seinem Heimatland Syrien droht ihm Haft. Sein Sohn lebt Lüneburg. Der 71-jährige ist, wie so viele, als politischer Flüchtling mit einem Touristenvisum nach Belarus gereist. Man sagte ihm, von dort werde er leicht nach Europa weiterreisen können.
Bereits wenige Tage nach seiner Einreise fand er sich gemeinsam mit einer syrischen Frau in der polnisch-belarussischen militärischen Grenzzone mitten im Wald wieder. Die polnischen Grenzbeamten drängten die Schutzsuchenden in die Hände der belarussischen Grenzschützer, die dann wiederum die Schutzsuchenden an der Rückreise nach Belarus hinderten. Die belarussische Armee rief ihnen zu: „Entweder gehen sie nach Polen, oder Sie werden im Wald sterben.“
Die Begleiterin von Mustafa war stark entkräftet. Von Tag zu Tag baute sie weiter ab. Als ihr Begleiter die belarussischen Sicherheitskräfte um medizinische Nothilfe für die Frau bat, wurde er erniedrigt, ausgelacht und gewaltsam zurückgedrängt. Schließlich starb die Frau aufgrund der verweigerten medizinischen Notversorgung und Einsperrung im Grenzgebiet.
Im Zuge des Abtransports der verstorbenen Frau gelangte Mustafa wieder nach Minsk. Nach den schweren und traumatischen Erlebnissen sitzt er dort nun fest und hofft auf die Möglichkeit, bei seinem Sohn nach Niedersachsen aufgenommen zu werden. Seine Habseligkeiten und Dokumente verlor er im Chaos im Wald. Sein gesundheitlicher Zustand ist mittlerweile sehr kritisch.
Wassila A.* musste bereits mehrfach innerhalb Syriens flüchten, bis sie die Möglichkeit bekam, nach Belarus zu gelangen. Man sagte ihr, sie könne von Minsk aus nach Deutschland weiterreisen, um zu ihren in Deutschland lebenden zwei Kindern zu kommen. Wassila leidet an Alzheimer-Demenz, einer unheilbaren Störung des Gehirns. Sie ist zunehmend vergesslich, verwirrt und orientierungslos. Aufgrund einer Nierentransplantation ist sie darüber hinaus lebenslang auf immunsupprimierende Medikamente und regelmäßige Untersuchungen angewiesen, ohne die sie nicht überleben würde.
Derzeit wird sie in einer der für gestrandete Geflüchtete errichteten Lagerhalle mit ca. zweitausend weiteren Schutzsuchenden festgehalten. Die Versorge in der Lagerhalle ist jedoch katastrophal. Nach einer Notbehandlung im Krankenhaus wurde ihr von den Sicherheitskräften ein Transport zurück zu der polnisch-belarussischen Grenzzone angeboten, wo tausende von Menschen im Wald in der Kälte ausharren in der Hoffnung, in der EU Schutz zu finden. Gleichzeitig wird gedroht, man werde die Lagerhalle in Kürze abbauen und alle abschieben. Die Menschen werden so gezielt in Panik versetzt.
Der volljährige Sohn und die volljährige Tochter von Wassila leben bereits seit mehreren Jahren in Deutschland und sind die einzigen Bezugspersonen, die sie in ihrem jetzigen Zustand begleiten und unterstützen könnten. Nun machen sie sich große Sorgen, ob ihre Mutter vor ansteckenden Erkrankungen geschützt wird und ob sie die notwendigen Medikamente erhält. Jeder weitere Tag in dieser Lagerhalle ist mit einem großen Risiko verbunden und könnte sie das Leben kosten.
Pressekontakt: Aigün Hirsch, 0511 / 98 24 60 36 | ah(at)nds-fluerat.org
[*Namen wurden geändert]
Weiterführende Infos:
Spiegel-Bericht vom 17.12.2021: 17 Menschen starben an der polnischen Grenze – das sind ihre Geschichten
Flüchtlingsrat Niedersachsen: Bericht des Anti-Folter-Komitees des Europarates zu kroatischen Pushbacks, 03.12.2021.
PRO ASYL: »Sonder-Asylrecht« für osteuropäische Grenzstaaten, 02.12.2021
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Die neuen Toten werden hinten begraben, dicht an dicht, im äußersten Winkel des Friedhofs. Drei Männer schippen Erde auf den Sarg. Zu hören ist nur das Knirschen ihrer Schaufeln. Dann bringen sie eine Plakette an dem Grab an. Das Todesdatum ist darauf vermerkt, darüber die Buchstaben N. N., nomen nescio, Name nicht bekannt.
Für die Männer in Bohoniki im Osten Polens ist es die zweite Beerdigung in drei Tagen. Über den Toten wissen sie nur, dass er nicht aus der Region stammte, Muslim sein soll und ein Pilzsammler im Wald seine Leiche fand. Die Gemeindemitglieder sind gekommen, um gemeinsam mit dem Imam für den Toten zu beten.
In Bohoniki, an der Grenze zu Belarus, liegt Polens größter muslimischer Friedhof. Seit November werden hier einige jener Menschen beigesetzt, die auf der Flucht aus Belarus gestorben sind. Der Imam hofft noch immer, die Toten irgendwann in ihre Heimatländer überführen zu können. Dann könnten Verwandte ihre Gräber besuchen. Jetzt legen Fremde Blumen ab.
Das Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus hat sich in eine Todesfalle verwandelt. Soldaten aus Polen und Belarus stehen sich gegenüber, dazwischen saßen über Wochen hinweg Tausende Geflüchtete fest. Inzwischen sind einige von ihnen in ihre Heimatländer zurückgekehrt, doch noch immer harren Gestrandete in dem Grenzstreifen aus.
Seit September haben im Schnitt fast jede Woche Menschen hier ihr Leben verloren, weil sowohl Belarus als auch die EU fast jede Hilfe versagten. Sie sind erfroren oder im Grenzfluss Bug ertrunken. In den Meldungen der Nachrichtenagenturen bleiben die Toten fast immer namenlos. Europas Politikerinnen und Politiker bezeichneten sie als »Waffen« des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko in einem »hybriden Krieg« gegen Europa. Tatsächlich waren sie Menschen mit Träumen, Ängsten, Zielen.
Reporterinnen und Reporter des SPIEGEL haben gemeinsam mit der Medienplattform Lighthouse Reports wochenlang recherchiert, wer diese Menschen waren und weshalb sie starben. Sie gingen Hinweisen im Netz nach, sprachen mit Angehörigen, Ermittlern, Ärzten, Sicherheitskräften und Menschenrechtsaktivisten in Belarus, Polen, Deutschland, Syrien, dem Jemen und Irak.
Der SPIEGEL kann den Tod von 16 Erwachsenen und einem ungeborenen Baby nachweisen. Die wahre Zahl ist wahrscheinlich höher. Von zwölf der Toten sind die Namen bekannt. Unter ihnen sind ein syrischer Konditor, ein Fußballfan aus dem Jemen und eine Irakerin, die ein Kind in sich trug, als sie sich auf die Reise machte. Dieser Text erzählt von ihren Leben.
Die Nachricht verbreitete sich im September wie ein Lauffeuer im palästinensischen Flüchtlingslager von Hama, einer Stadt im Nordwesten Syriens. Ein junger Palästinenser hatte es geschafft. Er war aus dem Lager über Belarus in die Niederlande gereist. Auch Rajaa Hasan hörte davon und glaubte: Da ist sie endlich, die Chance auf ein besseres Leben in Europa.
Hasan kannte nur die Welt der überfüllten Flüchtlingslager. Sie wurde weiter nördlich in einem Camp geboren, lebte nun in dem eng bebauten Flüchtlingsviertel in Hama mit ihrem Mann und vier Söhnen. Mit Stickereien verdiente sie umgerechnet zwei Dollar am Tag, erzählt ihr Bruder am Telefon.
Hasan holte sich bei dem jungen Palästinenser in den Niederlanden die Nummer von einem Kontaktmann, der die Reise nach Minsk für 3700 Dollar organisierte. Die Weiterreise in die Niederlande sollte 2500 Dollar kosten. Hasan musste es allein versuchen. Ihr Ehemann war zu krank. Hasan glaubte, es schaffen zu können, sagt ihr Bruder, auch weil die Schmuggler behaupteten: »Alles kein Problem. Du steigst ins Flugzeug nach Minsk. Wir bringen dich zur Grenze nach Polen, du läufst drei bis vier Stunden, dann bist du in der EU.«
Hasan deckte sich in Minsk mit warmer Kleidung und getrockneten Datteln ein. Dann fuhr sie gemeinsam mit drei weiteren Geflüchteten an die Grenze. Die Schutzsuchenden irrten durch den Wald, wurden nass, froren. Hasan wurde immer langsamer, bekam kaum noch Luft, wollte alle zehn Minuten eine Pause machen, erzählt ein Syrer, der sich der Gruppe im Wald anschloss. Irgendwann entdeckten polnische Sicherheitskräfte die Gruppe. Sie hievten die Geflüchteten auf einen Lastwagen, auch die erschöpfte Hasan. Doch statt sie in ein Krankenhaus zu bringen, schleppten sie sie zurück nach Belarus.
Hasan konnte kaum noch stehen. Sie klagte über Schmerzen in der Brust. »Die Frau stirbt!«, rief der Syrer belarussischen Grenzschützer zu. Doch diese hätten nur gelacht, sagt er. Hasan war schon nicht mehr ansprechbar, sie hatte weißen Schaum vor dem Mund, als belarussische Soldaten sie schließlich doch am 8. November in die nächstgelegene Stadt Grodno brachten. Aber statt die Frau sofort in eine Klinik einzuliefern, riefen sie ein Taxi. Die Geflüchteten sollten für die Fahrt nach Minsk 600 Euro bezahlen.
Hasans Puls hörte auf zu schlagen. Die Männer holten sie aus dem Wagen, legten sie auf den Asphalt. Auch herbeigerufene Sanitäter konnten Hasan nicht mehr wiederbeleben.
Die Familie in Hama erfuhr von Rajaa Hasans Tod durch ihren syrischen Begleiter. Er ließ ihnen auch zwei Audionachrichten übermitteln. Hasan hatte sie noch im Wald für ihre Mutter aufgenommen, aber nicht mehr abschicken können: »Wie geht es dir, Mama?«, fragte sie. »Uns geht es gut, bete für uns.«
Als seine Freunde ihm erzählten, dass man über Belarus in die EU gelangen könne, zögerte Kawa Anwar Mahmood al-Jaf nicht lange. Er arbeitete auf dem Markt in der Stadt Sulaimanija, im Nordirak. Anfang November machte er sich auf den Weg, gemeinsam mit ein paar Bekannten. 3500 Dollar zahlte al-Jaf für die Reise nach Minsk. Ein Selfievideo zeigt den jungen Mann vor einem Einkaufszentrum. Er trägt eine blaue Winterjacke, den Schal hat er sich bis unter die Nase gezogen.
Als Kind, so sagt seine Schwester, habe al-Jaf eine besonders enge Bindung zu seiner Mutter gehabt. Sie erinnert sich noch, wie er sie küsste, wenn sie ihm Geschenke oder neue Kleidung mitbrachte. Später fuhr al-Jaf an den Wochenenden mit seinen Freunden in die Berge, aß gegrilltes Fleisch; Shawarma war sein Lieblingsgericht. Er träumte von einem Leben in der Schweiz, in Europa wollte er Informatik studieren.
Sechsmal versuchte al-Jaf vergebens, den polnischen Grenzzaun zu überwinden, so erzählt es sein Vater, der mit ihm in Kontakt blieb. Zweimal hätten polnische Grenzschützer ihn zurückgestoßen. Erst beim neunten Mal klappte es, al-Jaf schaffte es tief nach Polen hinein, zusammen mit einer Gruppe Kurden. Kurz darauf riefen al-Jafs Begleiter seinen Vater an. Ein Schmuggler fahre sie nach Deutschland, aber seinem Sohn gehe es nicht gut, er könne nicht laufen. Dann ein weiterer Anruf: Sie seien jetzt im Auto, seinem Sohn gehe es immer schlechter. Al-Jafs Vater schaltete seinen Schwiegersohn ein, der in Dänemark lebt. Dieser flehte die Gruppe an, al-Jaf in ein Krankenhaus zu bringen. Doch die jungen Männer aus Said Sadik lehnten ab, offenbar aus Angst, erwischt zu werden. Am 23. November bekam al-Jafs Vater den letzten Anruf. Die Gruppe habe es nach Frankfurt geschafft. Aber sein Sohn sei tot.
An einem kalten Novembertag sitzt Ahmad al-Ensi in einem Bahnhofscafé in Neumünster. Drei Wochen ist es her, dass er die Grenze von Belarus nach Polen überquert hat. Er steht noch immer unter Schock. Sein Freund Ahmad al-Hasan ist tot, ertrunken im Fluss – und um ein Haar wäre al-Ensi es auch.
Ahmad al-Hasan war das jüngste von sieben Kindern. Das Nesthäkchen der Familie, seine Brüder sagen am Telefon: das Lieblingskind. Er selbst wollte lieber Amir genannt werden. Ahmad fand er zu gewöhnlich. Auf Fotos wirkt al-Hasan ein wenig wie ein Gigolo mit seinem dünnen Schnurrbart, den gezupften Brauen und dem provokanten Blick.
Al-Hasan war noch ein Kind, als seine Eltern mit ihm vor dem Krieg aus Homs in Syrien nach Jordanien flohen, wo sie jahrelang in einem Lager lebten. Nach dem Tod des Vaters zog die Familie nach Mafrak, eine Wüstenstadt, nicht weit von der syrischen Grenze.
Al-Hasan wollte Anwalt werden, neben der Schule putzte er für die Stadtverwaltung. Er machte seinen Abschluss mit einem Schnitt von 1,7. Doch für ein Studium reichte das Auskommen der Familie nicht. In der Türkei, wo sein Bruder Salman lebt, ist das Studium günstiger. Doch al-Hasan bekam kein Visum.
Al-Hasan redete nicht besonders viel, schon gar nicht über sich selbst, sagen seine Brüder. Dass er eine Freundin in Damaskus hatte, die er über Social Media kennengelernt hatte und heiraten wollte, erfuhren sie durch Zufall. Dass er gemeinsam mit seinem Freund Ahmad al-Ensi über Belarus nach Europa reisen wollte, erzählte er ihnen kurz vor dem Abflug. Seinem Bruder sagte er, er brauche sich keine Sorgen zu machen, das sei alles ganz leicht.
Al-Ensi flog einen Tag später als al-Hasan. Auf seinem TikTok-Kanal filmte er den Abschied von seiner Familie in Damaskus. Er weinte und umarmte seine Angehörigen.
In Minsk buchten die beiden Freunde ein Zimmer im Hotel Belarus. Sie liefen durch die Stadt, schossen Fotos. Eines zeigt al-Hasan in karierter Hose und schwarzer Jacke, lässig stellt er ein Bein auf eine Mauer.
Obwohl die beiden Syrer sieben Nächte im Hotel Belarus bezahlt hatten, wurde ihnen nach zwei Nächten gesagt, es sei Zeit, an die Grenze zu fahren. Ein Mann namens Abu Adam sollte die Flucht über die Grenze nach Polen organisieren, 2500 Dollar verlangte er pro Person. Ein Iraker schaffte die beiden Jungen mit einem Auto an die Grenze, gemeinsam mit sechs weiteren Geflüchteten. Die letzten Kilometer nach Polen sollten sie zu Fuß zurücklegen, im Schutz der Dunkelheit.
Gegen drei Uhr früh erreichte die Gruppe den Grenzfluss Bug. Vier belarussische Soldaten mit Maschinenpistolen und Schäferhunden kamen auf sie zu. Die Männer sagten den Geflüchteten, dass sie die Schlauchboote aufblasen sollten, so wird es al-Ensi später schildern. Dann trieben sie sie in Richtung Fluss.
Schon am Ufer ist der Fluss einen halben Meter tief, in der Mitte deutlich tiefer. Al-Ensi erinnert sich, er habe al-Hasan noch gewarnt: »Den können wir nicht überqueren.« Aber sein Freund war bereits in das Boot geklettert. Ein Soldat kam auf sie zu. Als al-Ensi sagte, er wolle umkehren, habe der Soldat nur befohlen: »Geht nach Polen!« Dann habe er das Boot vom Ufer weggeschubst.
Die beiden Freunde paddelten etwa bis zur Mitte des Flusses. Plötzlich erfasste eine Stromschnelle das Boot und brachte es zum Kippen. Al-Hasan und al-Ensi fielen ins Wasser. Al-Ensi stieß mit seinem Kopf gegen einen Stamm, er hielt sich fest und rettete sich an Land. Er hörte noch, wie al-Hasan nach Luft schnappte. Dann war es still.
Avin Irfan Zahir und ihr Mann Baravan Husni Murad haben fünf Kinder, das jüngste acht, das älteste 16 Jahre alt. Und dann war da noch ein Fötus, von dem die beiden Eheleute nichts ahnten, als sie aus dem Irak nach Belarus aufbrachen.
Tagelang irrte die Familie durch das polnisch-belarussische Grenzgebiet. Es ging Zahir immer schlechter. Irgendwann konnte sie kaum noch laufen. Als polnische Aktivisten die Familie im Wald fanden, lag Zahir wimmernd auf dem Boden, sie hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, spuckte Galle. Ihre Körpertemperatur war auf 27 Grad gefallen. Das Baby in ihrem Bauch war zu diesem Zeitpunkt schon tot.
Drei Wochen lang kämpften die Ärzte in einem polnischen Krankenhaus um Zahirs Leben, vergebens. Baravan Husni Murad gab dem ungeborenen Kind den Namen Halikari. Nun will er zurück in den Irak.
Mehr als einen Monat nachdem Issa Jerjos auf europäischem Boden gelandet war, versammeln sich in seinem Dorf im Westen Syriens 300 Menschen, um seiner zu gedenken. In der Kirche, so erzählen Teilnehmer des Gottesdienstes am Telefon, betet der Pfarrer für den Christen Jerjos.
Issa Jerjos war der älteste Sohn eines Lastwagenfahrers. Fotos zeigen einen kräftigen jungen Mann mit warmen braunen Augen, die Haare nach hinten gegelt, den Bart sorgsam gestutzt. Jerjos’ Freundin, Bernadate, verliebte sich vor fast zehn Jahren in Issa. Damals waren die beiden noch Teenager, besuchten dieselbe Schule.
Bernadate denkt jetzt oft an Issas Geruch zurück, an den Zitrusduft seines Parfüms, das er immer benutzte. Sie erinnert sich an das goldene Kreuz, das er ihr vor zwei Jahren schenkte. Und an ihre Initialen, die Jerjos als Liebesbeweis in einen Baum ritzte. »Issa hat mich nie belogen«, sagt sie. »Er hatte ein gutes Herz.«
Jerjos und Bernadate träumten davon zu heiraten. Ein Informatikstudium hatte Jerjos abgebrochen, um Geld für seine Familie zu verdienen. In Beirut fuhr er auf einem Motorrad Essen aus, später arbeitete er im kurdischen Erbil als Straßenhändler. Jeden Monat schickte er 100 Dollar nach Hause, manchmal etwas mehr. Als auch in Erbil kaum noch Geld zu verdienen war, entschied sich Jerjos, Richtung Europa aufzubrechen. Sein neues Ziel hieß Deutschland.
Am 15. September kam Jerjos in Minsk an. Mit zwei Syrern, die er unterwegs getroffen hatte, schaffte er es nach Polen. Doch polnische Sicherheitskräfte, so schrieb er seiner Freundin per WhatsApp, hätten ihn gefasst und zurück auf die belarussische Seite gezwungen.
Beim zweiten Anlauf verlor er seine Begleiter, schlug sich allein durch. Um halb vier Uhr morgens schickte Jerjos seiner Freundin den letzten Standort. Dann, so sagt Bernadate, sei sein Handyakku leer gewesen. Sie habe nie wieder von ihm gehört.
In den Tagen danach suchten polnische NGOs nach Jerjos. Wochen später, am 13. Oktober, entdeckten polnische Polizisten seine Leiche auf einem Feld – nicht weit von dem Standort entfernt, den er seiner Freundin zuvor geschickt hatte.
Jerjos’ Angehörige wissen bis heute nicht, woran er gestorben ist. Die polnische Staatsanwaltschaft hat eine Ermittlung eingeleitet, seine Familie einen Anwalt eingeschaltet, sie hofft, zu Issas Beerdigung nach Polen reisen zu dürfen.
Al-Zabhawi war verheiratet, seine Tochter Azal ist zwei Jahre alt. Trotz seines Wirtschaftsstudiums fand er keinen Job. Er wollte nach Deutschland, um Geld für seine Familie zu verdienen, sagt sein Bruder Haidar am Telefon. Die Reise über Belarus nach Polen sollte 5000 Dollar kosten, al-Zabhawi lieh sich das Geld.
Mehrere Tage lief er im September mit zwei irakischen Geflüchteten durch den Wald zwischen Belarus und Polen. Einer seiner Begleiter sendete der Familie mehrfach den Standort. Irgendwann erhielt Haidar al-Zabhawi im Irak eine Nachricht: Ahmed sei krank. Er werfe mit Gegenständen um sich, habe seine Kleidung ausgezogen. Haidar al-Zabhawi bat darum, seinen Bruder in das nächste Krankenhaus zu bringen. »Zu gefährlich«, schrieb der Begleiter.
Die Männer wollten Ahmed al-Zabhawi im Wald zurücklassen. Haidar befahl dem Schmuggler, die Männer nicht ohne seinen Bruder mitzunehmen. Die Männer sagten: »Wir wissen nicht, wie wir ihm helfen sollen.« Am nächsten Tag schrieben sie Haidar: »Dein Bruder ist tot.«
Gaylan Dler Ismail konnte kaum noch sprechen, als er über WhatsApp eine letzte Nachricht an seinen Bruder Goran schickte. »Mein Bruder. Ich schwöre beim Koran, es geht mir gar nicht gut. Ich habe noch nicht einmal mehr die Kraft aufzustehen. Aber bitte erzähl es Mama nicht.« Wenige Stunden später war Gaylan Dler Ismail tot, gestorben an Überzuckerung.
Goran Dler Ismail und sein Vater Mahmood sitzen an einem Novembervormittag im Haus der Familie am Stadtrand von Erbil, im Nordirak. Sie haben die Vorhänge zugezogen und das Telefon leise gestellt. Zwei Tage zuvor haben sie Gaylan zu Grabe getragen, nun versuchen sie, mit der Trauer fertig zu werden – und der Wut. »Die Europäer behaupten, sie würden Menschenrechte achten«, sagt Mahmood Dler Ismail. »Warum haben sie mein Kind dann im Wald sterben lassen?«
Mahmood Dler Ismail, 53 Jahre alt, Bauer, lebte ein sorgenfreies Leben. Seine Frau hatte vier Söhne und zwei Töchter zur Welt gebracht. Der Krieg, der weite Teile Iraks verwüstet hatte, hatte seine Familie verschont. Nur sein zweitältester Sohn Gaylan bereitete ihm Kummer: Er litt an Diabetes, seine Wirbelsäule hatte sich entzündet, zuletzt konnte er seinen rechten Arm und sein rechtes Bein kaum noch bewegen. Mahmood Dler Ismail fand im Irak keinen Arzt, der die Schmerzen seines Sohns hätte lindern können. Er wollte ihn in Deutschland behandeln lassen, doch das Konsulat in Erbil verweigerte ihm ein Visum.
Als im Sommer in Erbil Gerüchte die Runde machten, dass Irakerinnen und Irakern der Weg über Belarus nach Europa offenstünde, sah Mahmood Dler Ismail die Chance für Gaylan gekommen. Er brauchte sein Erspartes auf, verkaufte sein Haus, um Gaylan nach Deutschland zu schicken. Zwei weitere Söhne, Arkan und Govand, und eine Tochter, Iman, und deren Mann und Kind, sollten ihn begleiten. Insgesamt bezahlte Mahmood Dler Ismail 20.000 Dollar an einen Schmuggler im Irak.
Die Dler Ismails wussten, dass sich Polen gegen Neuankömmlinge abschottet. Und doch seien sie nicht vorbereitet gewesen auf die Gewalt, die ihnen an der Grenze begegnete, wird Arkan Dler Ismail, Gaylans Bruder, später zurück in Minsk erzählen.
Beim ersten Anlauf schaffte es die Gruppe bis nach Polen, wie Ortungsdaten belegen, wurde jedoch von polnischen Soldaten zurück über die Grenze geschleppt. Beim zweiten Versuch brach sich Iman Dler Ismail den Knöchel. Sie kam in ein polnisches Krankenhaus, alle anderen mussten zurück nach Belarus, wo sie von Sicherheitskräften getrennt wurden. Der Schwager von Gaylan Dler Ismail kam in eine Art Straflager. Für den Diabetiker Galyan Dler Ismail war das eine Katastrophe, denn im Rucksack des Schwagers befand sich das für ihn lebenswichtige Insulin.
Nach Tagen im Wald konnte Gaylan Dler Ismail nicht mehr laufen. Sein Bruder Arkan trug ihn auf dem Rücken. Polnische Soldaten hätten ihnen jede Hilfe verweigert, sagt Arkan. »Sie haben Gaylan einfach beim Sterben zugesehen.«
Gaylan Dler Ismails Leichnam wurde in den Irak überstellt. Auch sein Schwager ist mit dem Kind nach Erbil zurückgekehrt. Arkan und Govand sitzen hingegen immer noch in Minsk fest, ihre Schwester Iman wurde aus dem Krankenhaus in Polen entlassen und hat sich inzwischen bis nach Deutschland durchgeschlagen.
Bis Ende des Jahres müssen die Dler Ismails aus ihrem Haus in Erbil ausgezogen sein. Vater Mahmood sagt, er würde seine Kinder trotzdem wieder losschicken nach Europa. »Was haben wir für eine andere Wahl?«
Farhad Nabo arbeitete als Konditor in Kobane, Nordsyrien. An seinen freien Tagen spielte er mit seinen beiden Söhnen Fußball. Von seinen Fluchtplänen erzählte er kaum jemandem. Er wollte seine Familie später nachholen.
Nach mehreren vergeblichen Anläufen gelang es ihm im Oktober gemeinsam mit einem anderen Syrer, die Grenze nach Polen zu überqueren. In einem TikTok-Video stellt ein Mann Nabo als seinen Begleiter vor, er lacht und winkt in die Kamera. Nabo wähnte sich am Ziel, als er in Polen in das Auto eines Schmugglers stieg. Doch auf der Flucht vor der Polizei raste der Schmuggler in einen Lastwagen. Nabo war sofort tot.
»Farhad träumte davon, seine Söhne in einen Schulbus setzen zu können, ohne Angst um sie haben zu müssen«, sagt sein Schwiegervater am Telefon. Sie wollen seinen Leichnam nun zurück nach Syrien bringen.
Mostafa al-Raimi hatte dreimal versucht, regulär in den Westen zu gelangen. Er hatte vergebens ein Visum für die USA, Frankreich, die Niederlande beantragt, ehe er im Herbst den irregulären Weg wählte und von Saudi-Arabien nach Kairo reiste. Ein Schmuggler versprach ihm, ihn über Minsk nach Polen zu bringen. Von dort sollte es weiter nach Deutschland oder in die Niederlande gehen – allein der letzte Teil der Reise sollte 1800 Euro kosten.
Al-Raimi stammt aus einer wohlhabenden Familie. Sein Vater war Richter, sein Bruder arbeitet im jemenitischen Konsulat in Saudi-Arabien. Seine Familie beschreibt ihn als einen stillen, freundlichen Mann, der viel lachte und Fußball liebte. Vor dem Krieg studierte al-Raimi in Jemens Hauptstadt Sanaa Rechnungswesen. Später fand er eine Anstellung bei einer saudi-arabischen Bank in Dschidda. Der Job sei jedoch prekär gewesen, da immer mehr ausländische Mitarbeiter durch saudi-arabische Staatsbürger ersetzt wurden, sagt sein Bruder Salah al-Din al-Raimi am Telefon.
Al-Raimi machte sich allein auf den Weg nach Europa. Er versprach seiner Frau und seinen beiden Kindern, sie zu sich zu holen, sobald er in den Niederlanden wäre. Gemeinsam mit zwei weiteren Jemeniten und vier Syrern versuchte er, die Grenze nach Polen zu überqueren. Auf der Flucht vor polnischen Soldaten verloren sich die Männer. Nach Stunden fanden sie sich wieder, nur al-Raimi blieb verschollen. Drei Tage später entdeckten polnische Grenzschützer seine Leiche.
Als Salah al-Din al-Raimi vom Tod seines Bruders erfuhr, reiste er nach Polen. Er hatte gehört, dass es in der Nacht, in der sein Bruder starb, eine Schießerei an der Grenze gegeben haben soll. Er suchte Mostafas Körper im Leichenschauhaus nach Schusswunden ab, stellte aber fest, dass sein Bruder offenbar eines natürlichen Todes gestorben war. Die Ärzte sagten, es sei ein Herzinfarkt gewesen. Salah al-Din al-Raimi beschloss, ihn in Polen zu begraben. Er war als einziger Angehöriger bei der Beisetzung dabei.
Kurdo Khalid wollte sich nur noch ausruhen. Er war Ende Oktober abgekämpft und erschöpft aus dem polnisch-belarussischen Grenzgebiet nach Minsk zurückgekommen. Tagelang hatte der Iraker versucht, mit seinem jüngeren Bruder einen Weg in die EU zu finden – ohne Erfolg. Khalid war frustriert, noch vor wenigen Jahren war es ihm gelungen, bis nach Großbritannien zu gelangen, wo er eine Zeit lang arbeitete.
Er stellte seinen Rucksack und Schlafsack in einem schäbigen Hostel im Zentrum der belarussischen Hauptstadt ab, ging in das nahe gelegene Einkaufszentrum Galleria, einem wichtigen Treffpunkt der Flüchtlinge. Er wollte etwas trinken und essen, setzte sich in der fünften Etage an einen der hellen Tische zwischen Imbissständen und Cafés. Plötzlich sackte er zusammen, fiel vom Stuhl und lag regungslos am Boden, so erzählt es ein irakischer Augenzeuge. Sanitäter versuchten vergebens, Khalid wiederzubeleben. Später hieß es, der Iraker sei an einem Schlaganfall gestorben.
Wafaa Kamal hoffte, dass ihr elfjähriger Sohn in Europa Arzt wird, der achtjährigen Tochter wünschte sie eine Karriere als Architektin.
Kamal liebte das Schöne und Leichte, erzählt ihr Mann Haidar am Telefon. Sie hatte in Bagdad Angewandte Kunst studiert. Ihre Freizeit verbrachte sie mit Sticken und Ausflügen mit ihren sechs Geschwistern. Der Alltag der Familie war idyllisch. Doch nachdem Wafaa und Haidar Kamal bei internationalen Organisationen angeheuert hatten, seien sie von schiitischen Milizen bedroht worden, sagt Haidar Kamal. Sie fühlten sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher. Für 7200 Dollar buchte die Familie ihre Reise von Bagdad nach Minsk, von wo aus sie weiter in die EU wollte.
In der Nähe der Stadt Grodno gelangte sie durch den Zaun ins polnische Sperrgebiet. Dahinter sollte ein Schmuggler sie abholen und nach Deutschland bringen. Pro Person hatten die Kamals dafür noch einmal 1800 Dollar bei einer Versicherung in der Türkei hinterlegt. Den Treffpunkt sollten sie niemals erreichen.
Nach mehreren Tagen im Wald wurde Wafaa Kamal krank. Sie konnte kaum noch atmen. Haidar Kamal lief zur nächsten Straße. Nach wenigen Minuten trafen polnische Sicherheitskräfte ein. Doch statt Wafaa Kamal ins Krankenhaus zu fahren, schleppten sie die Familie zurück an den Grenzzaun. So schildert es Haidar Kamal.
Auf der belarussischen Seite verbrachte die Familie noch eine Nacht im Wald. Am 19. September, morgens um sechs, blieb Wafaa Kamals Herz stehen. Haidar lief los, nach Stunden fand er belarussische Soldaten. Diese hätten ihn erpresst, sagt er: Nur wenn er den Polen die Schuld am Tod seiner Frau gebe, würden sie Hilfe schicken. Kurz darauf nahmen belarussische Ermittler zwei Videos auf, die sie später online stellten. Darin erzählt Haidar Kamal, polnische Soldaten hätten seine Frau zu Tode geschlagen. Für wenige Sekunden sieht man den regungslosen Körper seiner Frau, die keine Schuhe mehr trägt. Die polnischen Soldaten hätten sie ihr abgenommen, schrieben die belarussischen Sicherheitskräfte dazu.
Nach dem Videodreh wurde Wafaa Kamal in ein Krankenhaus gebracht. In der Todesurkunde heißt es, sie sei an Unterkühlung gestorben. Die Kinder kamen in eine Unterkunft, Haidar Kamal in ein Gefängnis.
Nach acht Tagen wurde er entlassen. Von den 8400 Dollar, die er zu Beginn seiner Haft noch bei sich gehabt habe, hätten die Beamten ihm nur die Hälfte zurückgegeben. 4200 Dollar berechneten sie für die »Unterbringung« der Familie, Covid-19-Tests und die Rückflüge nach Bagdad.
Ein Spediteur verdiente als Letzter am Leid der Kamals.
5138 Dollar musste Haidar Kamal für den Rücktransport seiner toten Frau zahlen.
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Fürchterliches an der Grenze Belarus - Polen
"»Hybrider Angriff«,
nennt es EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Lukaschenko benutze das Schicksal der Flüchtlinge, »um den Westen zu destabilisieren«, sagt der deutsche Innenminister Horst Seehofer, während der polnische Verteidigungsminister versichert, sein Land sei »auf die Verteidigung der polnischen Grenze vorbereitet«. Man wolle vielleicht die Nato konsultieren. Ebenso wie das Nachbarland Litauen hat Polen im Grenzgebiet zu Belarus den Ausnahmezustand verhängt. Die litauische Innenministerin spricht gar von einer »Invasion«
Verbal einen Gang herunterschalten
Europa im Herbst 2021. Klingt als sei ein Krieg ausgebrochen. Dabei sind da nur ein paar Tausend Geflüchtete an der Außengrenze, in einem anscheinend rechtlosen Raum. Zumindest was ihre Rechte angeht, denn einen Asylantrag konnte nach allem, was bisher bekannt ist, kaum jemand von ihnen stellen. Ein paar Tausend, die bei der Geburt geografisch nicht so viel Glück hatten und nun mit ihren Kindern in Schneeanzügen und ihren Schlaf- und Rucksäcken bepackt hin- und hergeschubst werden.
Vielleicht wäre die erste Antwort auf die Frage, was »Europa denn jetzt tun solle«, diese hier: Verbal einen Gang herunterschalten, einen Schritt zurücktreten und sich vergegenwärtigen, dass es um Menschen geht. Es braucht auch jemanden, der sich destabilisieren lässt
In einem zweiten Schritt könnte man einige europäische Logiken infrage stellen, die sich in den vergangenen Jahren vor allem in der Asyl- und Migrationspolitik festgesetzt zu haben scheinen und nun wie ein riesiger Eichenschrank unverrückbar im Wohnzimmer stehen:
Abschreckung:
Wie bereits bei der Flüchtlingsbewegung Anfang 2020 an der türkisch-griechischen Grenze nehmen politisch Verantwortliche auch jetzt wieder in Kauf, dass verzweifelte Menschen im Niemandsland in der Kälte ausharren und im Unklaren gelassen werden, wie es für sie weitergeht. Auch damals wurde martialische Rhetorik bemüht, dankte von der Leyen den Griechen, der »europäische Schild« zu sein.
Es entstehen derzeit erneut erschütternde Bilder, von denen beide Seiten politisch etwas haben: Die autoritären Regenten, die Geflüchtete an die Grenze »durchlassen«, um Europa unter Druck zu setzen; und europäische Handelnde, die sich eine Abschreckung durch diese Bilder versprechen gegen all jene, die vielleicht noch kommen wollen. Abgesehen davon, dass diese Art der Abschreckung humanitär zutiefst fragwürdig ist – sie funktioniert nicht. Niemand, der Krieg, Hunger, Folter, Repression und Perspektivlosigkeit erlitten hat, wird sich von Stacheldraht und Tränengas abhalten lassen. Das kann man auf dem Mittelmeer beobachten, an der Grenze zwischen Mexiko und den USA oder jener zwischen Afghanistan und Pakistan.
Destabilisierung:
Innenminister Horst Seehofer hat zu Recht gefolgert, dass es die Absicht des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenkos sein dürfte, den Zusammenhalt der europäischen Staaten und auch ihr Innenleben zu destabilisieren, indem er Geflüchtete durch sein Land an die europäische Grenze schleust. Es ist die Nachahmung des Models Putin, nur offensichtlicher, wenn man so will, weniger anspruchsvoll in der Ausführung. Doch es stellt sich die Frage, warum man auf der anderen Seite nur allzu bereit dafür zu sein scheint, sich destabilisieren zu lassen. Warum bloß jagen ein paar Tausend Migranten den Europäern so große Angst ein? Da stehen mittlerweile mehr Uniformierte als dehydrierte und unterkühlte Menschen an der Grenze. Und warum wird diese Angst, getarnt als Stärke (siehe Rhetorik) den Autoritären so mutwillig überreicht?
Die Definition von Realpolitik:
Das realpolitische Mantra der europäischen Asyl- und Migrationspolitik ist seit 2015, dass eine faire Verteilung von Geflüchteten nicht möglich ist, solange nicht alle 27 Staaten mitmachen. Die Gesellschaften wollen keine weitere Aufnahme, es ist nicht machbar. So weit, so frustrierend. Doch diese Annahme von Realpolitik und Machbarkeit ist seltsam. Zumindest für eine der wohlhabendsten und stabilsten Regionen der Welt.
Es gerät vielleicht ein wenig in Vergessenheit, aber: Geflüchtete haben Rechte. Diese Rechte sind in der Flüchtlings-, der Menschensrechts-, der Kinderkonvention festgeschrieben. Sobald ein Migrant europäischen Boden betritt, hat er das Recht, in ebenjenem Land einen Asylantrag zu stellen. Die europäischen Regeln sind klar. Man muss sie nur befolgen und ihre Befolgung anmahnen. Die europäische Solidarität gebietet es, dass Erstaufnahmeländer nicht allein gelassen werden. Denkbar wäre, auch jene Menschen, die noch nicht auf europäischem Boden sind, aus dem belarussisch-polnischen Niemandsland zu holen und sie ihre Anträge stellen zu lassen. Zügig zu klären, wer bleiben darf und wer nicht. Kontrolle auszuüben, ist nicht inhuman. Menschen in der Kälte einem ungewissen Schicksal zu überlassen, ist es schon.
Seine eigenen Regeln und Konventionen einzuhalten, wäre der »migrations- und fluchtpolitische Mittelfinger« Richtung Minsk, wie es der Sicherheitsexperte Carlo Masala von der Bundeswehruniversität München in einem Tweet bezeichnete, weil Panzer allein nicht helfen. Es würde zeigen, dass die Strategie der Destabilisierung gegenüber Europa nicht zum Erfolg führt. Weil man hier seine Regeln durchsetzt. Und dass man vieles gut aushält, aber nicht so gut die Verletzung der Menschenwürde.
Warum? Weil – it's Europe, stupid." © Der Spiegel
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